: „Nur schön zu spielen hat nichts mit Sport zu tun“
SYSTEMFUSSBALL Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturwissenschaftler aus Stanford/USA, über Kreativität im Fußball, warum es kaum noch Stars gibt und weshalb Intellektuelle über Fußball reden sollten
■ Geboren: 1948 in Würzburg
■ Beruf: Literaturwissenschaftler. Professor für Komparatistik an der Stanford University in Kalifornien. Gastprofessor an der Zeppelin University in Friedrichshafen.
■ Familie: Verheiratet. Vier Kinder.
■ Wohnort: Lebt seit 1989 in Kalifornien. US-Bürger.
■ Neues Buch: „California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt.“ Hanser 2010, 205 Seiten, 15,90 Euro
■ Gumbrechts WM: Sein Team: Elfenbeinküste. Sein Spieler: Drogba. Sein Stil: nostalgisch, auf keinen Fall wie Spanien.
INTERVIEW PETER UNFRIED
taz: Sollen Intellektuelle über Fußball reden – oder ist das eine Form von Gentrifizierung, Herr Gumbrecht?
Hans Ulrich Gumbrecht: Typisch amerikanisch könnte ich sagen, dass das eine Frage des Marktes ist. Wenn Ihre Zeitung daran zugrunde ginge, sollten wir nicht darüber reden. Grundsätzlich stellt sich Ihre Frage nicht: Das kulturelle Phänomen ist viel zu weit gediehen, als dass man das abstellen könnte. Außerdem ist der Fußball als soziales und kulturelles Phänomen so groß geworden, dass es unsinnig wäre, ihn auf die Sportseiten zu verbannen.
Also reden wir?
Die wichtige Frage für mich ist schon die der Kompetenz. Davon abgesehen gehört das Reden darüber zum kulturellen Phänomen Sport dazu. Als ich 1989 nach Amerika ging, habe ich in einer der wenigen rationalen Entscheidungen meines Lebens beschlossen, American-Football-Fan zu werden. Fußballfan kann man nicht sein, weil man dann mit niemandem mehr reden kann. Wenn die meisten meiner amerikanischen Landsleute über Fußball reden, ist das, wie wenn Amerikaner über Sex reden.
Wie ist das?
Man merkt sofort, dass irgendetwas nicht richtig ist. Wenn Amerikaner über Sex reden, reden sie über Kondome und darüber, wie gefährlich Sex ist. Und wenn sie über Fußball reden, reden sie über Ballbesitzzeiten.
Die vom ZDF-Sportstudio und von Karl-Heinz Bohrer in den Sechzigern eingeleitete Feuilletonisierung des Fußballs ist längst von Verfachlichung abgelöst. Und parallel dazu hat sich die Boulevardisierung ausgebreitet. Was halten Sie davon?
Das ist nichts, das man ändern könnte. Soziale Komplexifizierung und Intellektualisierung auf der einen Seite, Boulevardisierung auf der anderen: Ich glaube, dass sich das auch in anderen Bereichen so ähnlich entwickeln wird.
Erleben Sie die Verfachlichung?
Klar. Bei Fußball-Gesprächen unter Intellektuellen gibt es immer den einen Typ, der sagt: Wenn du wirklich was vom Fußball verstehen würdest, dann würdest du doch bei Capello oder Dunga sofort sehen, dass … Dieser Typus der intellektuellen Rede über Fußball imitiert den Diskurs der Trainerakademien. Eigentlich will er so reden wie Jogi Löw.
Das ist nicht Ihre Sache?
Nein, das kultiviere ich nicht. Mit geht es um die Dinge, die von der professionellen Seite gern und vielleicht ja notwendig vernachlässigt werden.
Was ist das?
Ästhetik. Meine Frage ist auch bei dieser WM: Ist das schön?
Sie haben sich zu der These verstiegen, die Elfenbeinküste spiele „schöner“ als Deutschland. Welche Belege haben Sie dafür?
Ich habe keine Belege. Mein Kriterium ist unter anderem das durchschnittliche Niveau des artistischen Umgehens mit dem Ball. Für mich ist immer noch Garrincha ein Maßstab, der die Rastelli-artigen Momente kultivierte, und wenn er einen Verteidiger umspielt hatte, wartete, bis er wieder da war, um ihn erneut umspielen zu können.
Das klingt jetzt aber sehr antimodern.
Das müssen Sie mir schon zugestehen. Mag sein, dass ein Defizit im Coaching, das Fehlen strategischer Perfektion, jene Freiräume ermöglicht, die für mich wichtig sind. Selbstverständlich spielt bei mir auch Sozialromantizismus eine Rolle. Es wäre toll, wenn Afrika erstmals Weltmeister würde – der Kontinent, der am meisten im Abseits steht.
Um schön zu sein, muss sich ein Fußballstil am Ende durchsetzen, sonst ist er nur selbstgefällig?
Es gab oder gibt noch im Basketball die Harlem Gobtrotters, die nur schön spielen wollen. Das hat tatsächlich mit Sport wenig zu tun. Ich glaube, dass ein Wille zum Sieg auf beiden Seiten zur Ästhetik des Fußballs gehört, aber nicht unbedingt immer der Sieg. Deshalb ist die Bayern-Mannschaft dieses Jahres populärer als die, die zum letzten Mal die Champions League gewonnen hat.
Ihre These lautet also: Die Kreativität im Fußball stirbt. Je perfekter Systemfußball gespielt wird, desto dringender wird das Kreative benötigt, um Ereignisse des Unvorhergesehenen zu provozieren und zu schaffen – und desto schwieriger wird es für den kreativen Spieler. Das ist das kreative Paradoxon des Fußballs der Gegenwart.
Stimmt. Die WM hat mich bisher bestätigt. Die Torquote ist niedrig und wie unnachgiebige Studienräte beklagen sich die enttäuschten Kommentatoren Spiel für Spiel über die mangelnde Attraktivität des Fußballs, der sich dort vollzieht.
Der Grund?
Die durchschnittliche physische, technische und taktische Qualität im Spitzenfußball ist unvergleichlich höher als früher. Dadurch ist die Rolle des potenziellen Stars, wie etwa Messi, seltener geworden und prekärer.
Und doch haben die Fähigkeiten von Robben und Messi bisher das Jahr national und international dominiert – bis Inter sie in den entscheidenden Spielen neutralisiert hat.
Ich sage nicht, dass es keine Stars mehr geben kann. Ich sage: Die Bedingung der Möglichkeit für einen Spieler, ein Star zu sein und aus der Mannschaft herauszuragen, ist viel komplexer und seltener geworden. Außerdem sind die Möglichkeiten, ihn durch ein Spielsystem zu stoppen, heute größer als zu Zeiten der Manndeckung.
Warum funktioniert Messis Individualismus beim FC Barcelona besser als im argentinischen Nationalteam?
Sie kennen ja den Witz: Wie kann man Messi stoppen? Durch Maradona. Aber selbst wenn Maradona gar nicht so ein schlechter Trainer ist, wird doch deutlich, dass die Bedingungen für Messi in seiner Nationalmannschaft nicht so geeignet sind wie die bei Barca.
Warum nicht?
Diese Barca-Generation hat einen sehr, sehr langen Prozess des Zusammenwachsens hinter sich. Die haben sich in ihrer Spielweise sicher komplementär entwickelt. Xavi und Iniesta spielen, wie sie spielen, weil sie Messi haben. Und Messi spielt, wie er spielt, weil er Xavi und Iniesta hat.
Welcher Fußball ist für Sie im postheroischen Zeitalter der ästhetischere: die spanische Ballbesitzschule oder der Konterfußball der wenigen Direktpässe?
Keiner von beiden. In beiden Fußballstilen stellt sich die Ästhetik nur selten ein, an der mir gelegen ist. Ballgeschiebe im Bestreben, eine Lücke zu finden, steht im Vordergrund und langweilt mich nicht selten.
Und schnelle One-Touch-Konter-Kombinationen?
Sind für mich auch selten ästhetisch. Ich bin 62 und habe deswegen kein schlechtes Gewissen, einen altmodischen Fußballgeschmack zu haben. Das erste Spiel, das ich im Radio gehört habe, war das WM-Finale 1954. Maradona ist der brillanteste Spieler, den ich je gesehen habe. Dann kommen Beckenbauer und Cruyff. Das war ein wahrhaft heroisches Zeitalter und ein Fußball, der den zentralen Figuren die Möglichkeit gab, sich als Helden permanent zu entfalten. Ich träume immer noch, dass der nächste Maradona geboren wird.
Es kann kein neuer Maradona geboren werden – weil es den Fußball für ihn nicht mehr gibt.
Eben. Es kann auch wahrscheinlich keiner mehr so viel saufen wie Maradona und trotzdem gut sein, weil die physischen Ansprüche gestiegen sind. Man kann als These formulieren, dass die schwierigere Situation des postheroischen Fußballs die wenigen Helden, die es noch gibt, interessanter macht. Grade weil das so schwierig ist, sind Stars zunehmend Stars für bestimmte Phasen. Bei Robben hieß es immer, er sei ein großer Spieler. Aber so wie in van Gaals Bayern konnte er sich nie zuvor entfalten. Das zeigt, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen, damit jemand Starfußball spielen kann.
Was ist mit Cristiano Ronaldo?
Dass Cristiano Ronaldo in der portugiesischen Mannschaft häufig blass ist, belegt die These von der Voraussetzungs-Komplexität heutigen Startums im Fußball fast noch fataler als Messi.
Im modernen Fußball braucht es gestiegene Fachlichkeit, um die wirklich postheroischen Stars schätzen und erleben zu können; also der Typ Xavi und Iniesta.
Das fing schon bei Zidane an, dass man oft erst drei Pässe später sehen konnte, was der initiiert hat. Im modernen Fußball braucht es einige Spieler, die sehr gut darin sind, das Spiel wie einen Motor am Laufen zu halten; mit immer ähnlichen Bewegungen. Das ist die Grundlage dafür, dass Messi oder Robben den dramatischen Moment des Nicht-Erwartbaren zu schaffen, den Moment, an den man sich erinnert.
Bei einer WM wird regelmäßig der Fußballstil als Ausdruck der Identität der dazugehörigen Nation erklärt oder andersherum. Was halten Sie davon?
Aus internationaler Perspektive hat sich in den beiden Fußballstilen Deutschlands und Brasiliens Assoziationspotenzial ergeben – auch wenn das zufällig war. Brasilien hat 1938 erstmals an einer WM teilgenommen und ist Dritter geworden. Dabei sind erstmals Afro-Brasilianer hervorgetreten. Wie Brasilien spielt, hat tatsächlich ein Feedback auf die Selbstreferenz gehabt, um Luhmannisch zu reden.
Vulgo?
Brasilianer halten sich für besonders inspiriert und romantisch, was im Alltag selbstverständlich nicht der Fall ist. Da sind sie genauso langweilig wie alle anderen.
Und die Deutschen? Sehen sich plötzlich als Vertreter des schönen Fußballs.
Die Deutschen sollen schwitzen, Moral haben, nie aufgeben. Wenn Sie mir das nun als Amerikaner nicht übel nehmen: Ich kenne kein Land in der Welt heute, in dem so viel Freizeitkultur herrscht wie in Deutschland und die Verpflichtung so groß ist, zu betonen, wie schrecklich Arbeit ist. Vielleicht erklärt diese inzwischen fast selbstverständlich gewordene Umpolung existenzieller Grundwerte – in Konvergenz mit der sozialen und kulturellen Herkunft von immer mehr Spielern im deutschen Trikot – dass nun plötzlich die deutsche Mannschaft in einem fast ironischen Verhältnis zu den sogenannten deutschen Tugenden bemerkenswert schön spielt.
Ist das Fortschritt oder Ausdruck der aktuellen Phase eines selbstgefälligen Selbstmitleids?
Wie immer Sie das sehen, es hat sich entgegen dem traditionellen Image entwickelt. Wenn Sie hier das Radio einschalten, wird schon am Mittwoch nur noch über das Wochenendwetter geredet. Und wehe, wenn es nicht schön wird. Die Art, wie in Deutschland Fußball gespielt wird, drückt nichts davon aus. Oder nehmen Sie Italien.
Der zynische Fußball?
Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der man nicht erwartete, dass Italien defensiv spielt. Den Catenaccio hat Helenio Herrera in den frühen Sechzigern zu Inter Mailand und damit nach Italien importiert. Inters Catenaccio war bekanntlich sehr erfolgreich und ist dann Stilmarke des italienischen Fußballs geworden. Aber es entspricht überhaupt nicht dem Image mit den Mandolinen und den vollbusigen Frauen, wegen dem Italien ein so beliebtes Land ist. Eigentlich müsste Holland als calvinistische Nation spielen wie Italien. Aber Holland spielt, wie das attraktive Italien spielen müsste.
Warum spielen die Niederlande, wie sie spielen?
Weil dieser Stil, den Rinus Michels und Cruyff einbrachten, dazu führte, dass Holland zum ersten Mal richtig erfolgreich war. Deshalb will Holland auch heute noch so spielen. Aber die Art, wie Holland und Italien spielen, drückt nichts aus, was das Land ausmacht. Vielleicht wäre der deutsche Stil anders, hätten die Österreicher bei der WM 1938 nicht gestreikt.
Nachdem Hitler Österreich übernommen hatte, bestand das deutsche WM-Team aus sechs Deutschen und fünf Österreichern.
Österreich definierte in den 30ern die Spielkultur des Weltfußballs. Wäre der Beginn des deutschen Fußballs der WM-Titel 1938 gewesen, entstanden aus österreichischer Spielkultur, dann hätte er sich wohl anders entwickelt. Der erste große Erfolg wirkt langfristig stilprägend.
Der WM-Titel von 1954 ist in die Geschichte der Nachkriegs-Republik eingewoben. Bedeutet es heute noch etwas für ein Land, wenn sein Team Weltmeister wird?
Das kommt auf den Einzelfall an. Der grandiose WM-Sieg Brasiliens von 1958 fiel mit einer politisch und gesellschaftlich vielversprechenden Phase Brasiliens zusammen. Das kann es geben. Frankreichs WM-Sieg von 1998 mit einem multiethnischen Team kann man in abgeschwächter Form auch nennen. Das Negativbeispiel ist sicher Ungarns Finalniederlage 1954. Italiens Sieg 2006 dagegen hatte keine besondere Konfiguration.
Es gibt ein Bedürfnis, dass wir Weltmeister werden.
Wir leben in einem stark postnationalistischen Zeitalter, die Fußball-WM ist ein Überbleibsel aus einer Zeit, die politisch nicht mehr existiert. Selbst mein Eckrestaurant in München hat die deutschen Fahnen rausgehängt. Bei der WM kommen Nationalgefühle hoch, die es in der politischen Realität und im Alltag nicht mehr gibt. Die Entwicklung Europas ging einfach zu schnell, so dass der Bezugsrahmen abstrakt geblieben ist.
Wir Deutsche sind ja 2006 angeblich entspannte Patrioten geworden. Auf der anderen Seite fürchten die Mahner, damit solle Auschwitz abgehakt werden.
Ich glaube nicht, dass Deutschland heute einen größeren Hang zu Extremität hat als irgendein anderes Land. Die Nachkriegs-Geschichte der re-education in Deutschland ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Dennoch hat Auschwitz stattgefunden. Das ist eine Dimension, die nicht nicht durch eine freundliche WM überwunden wird. Da ändert sich gar nichts, das wird langfristig bleiben. Man könnte lapidar sagen: Das ist ein hartes, irreversibles Schicksal. Pech für die Nachgeborenen – unumkehrbar.
Die neue Entspanntheit?
Die Selbstverliebtheit der Deutschen 2006 war schon interessant. Es war eine gut organisierte WM in einem reichen und kompetenten Land, ohne dass wirklich etwas Besonderes passiert wäre. Man könnte sagen, dass 2006 die WM war, wo deutlich wurde, dass sich bestimmte Konfrontationen von Fangruppen abgeschwächt haben, die bewusst nationalistisch motiviert waren. Wäre die WM in Italien oder Spanien gewesen, hätte man Ähnliches gesehen.
Das Image wurde indes 2006 etwas anders und besser, nachdem Klinsmann und Löw die Spielweise verändert hatten. Sehen Sie da einen Zusammenhang?
Ich glaube, man wollte das in Deutschland so sehen. Das „Sommermärchen“ war eine kleine und ganz legitime Episode deutscher Selbstverliebtheit. Außerhalb von Deutschland und Italien gilt die WM 2006 wie die amerikanische von 1994 als gut organisiert und ästhetisch langweilig. Immerhin war der Betonverteidiger Cannavaro der Spieler des Turniers.
Das veränderte Staatsbürgerrecht hat dazu beigetragen, dass wir heute ein multiethnisches Team haben.
Wenn jemand wie Özil eine gute WM spielen sollte, kann das tatsächlich Wirkung haben. Man darf das aber nicht überschätzen und denken, dass dann alle Türken in Deutschland glücklich sind. Das tut ja aber auch niemand.
Stören Sie als US-Patriot sich an den Deutschlandfahnen überall?
Ach, Gott: Warum sollen die Leute in ihrem Schrebergarten nicht die Deutschlandfahne raushängen? Das ist völlig harmlos, fast rührend.
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