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Archiv-Artikel

Wir sind Hartz IV

Es sollte das Tagebuch eines jungen Arbeitslosen werden, der erstmals stempeln geht: eine Geschichte über Elend, Bürokratie, Ineffizienz. Doch es kam ganz anders – und auch wieder nicht

Von 844F170606

2. Januar (Prolog)

Man ruft mich an, sagt, ich müsse jetzt doch nicht morgen weiterarbeiten, die mündliche Zusage, der Vertrag laufe im Januar weiter, entfalle leider. Man könne sich aber trotzdem treffen. Man wünscht mir ein gutes neues Jahr.

3. Januar

taz-Titel: „Auch die Scheiß-Jobs sind schon besetzt“. Passt ja prima. Egal, ich genieße die Freiheit. Fahre stundenlang Bahn und starre aus dem Fenster. Ich wollte sowieso mal freihaben und ein bisschen ausspannen. Ich habe tolle Ideen für neue Projekte.

4. Januar

Ich fotografiere mich in Unterhemd, Schlafhose und Hausschuhen auf der Couch sitzend. Ich mache mir am PC einen schwarzen Balken über die Augen. Neben mein Selbstbildnis schreibe ich: arbeitslos. Ich sehe mich als Künstler.

Nachmittags bekomme ich es doch ein wenig mit den Nerven. Ich rufe verschiedene vermeintliche Kontakte an. Stumme oder besetzte Telefone frustrieren mich. Diejenigen, die ich erreiche, raten mir, mich unbedingt arbeitslos zu melden. Aber ich habe noch nicht lange genug gearbeitet (Studium, Praktikum, drei Monate Job).

Ich fühle mich verloren. Ich werde nie wieder einen Job finden. Ich koche mir Nudeln und schaue „Der Seewolf, Teil 2“ im Fernsehen. Es ist so halb drei am Nachmittag.

Abends rufe ich einen Freund an, der mal Hartz IV bezogen hat, und frage ihn, wie das geht. Er gibt mir den Tipp, unbedingt morgens um acht aufs Amt zu gehen. Auch wenn es hart sei, aber mittags warte man drei bis fünf Stunden. Ich notiere mir alles. Ich rufe meine Mutter an, auch sie soll wissen, was ich gerade mache. Sie scherzt, sagt, früher sei das halt alles besser gewesen. Gegen Ende des Gesprächs rät sie mir auf jeden Fall, aufs Arbeitsamt zu gehen. Wozu dem Staat was schenken, sagt sie.

5. Januar

Ich nehme mir vor, diesen Monat keine Monatskarte zu kaufen, mache alles zu Fuß. Ich beschließe, einen Artikel mit dem Titel „Wir sind Hartz IV – Tagebuch eines Arbeitslosen“ zu schreiben. Ich sehe mich als Journalisten.

6. Januar

Ich schlafe bis 10 Uhr, frühstücke bis 11 und lande erst gegen 12 auf dem Arbeitsamt. Auf der großen Straße sind an den Laternenpfählen Wegweiser, die mich dorthin führen sollen. Schon im Erdgeschoss bin ich verloren, dabei müsste ich mich nur an die grüne Beschilderung halten und den Buchstaben A–I folgen.

Im zweiten Stock steht eine Security-Frau. Sie rät mir zum zweiten Wartezimmer, dort sei vielleicht weniger los. Das zweite Wartezimmer ist tatsächlich leerer. Verwundert suche ich einen Automaten, um eine Nummer zu ziehen. Man erklärt mir, ich solle fragen, wer der Letzte sei. Ich frage: „Wer ist Letzter?“ und hoffe, dass das niemand persönlich nimmt. Es kommt zu einer Diskussion zwischen einem Tarnuniform tragenden Halbstarken, seinem Kampfkollegen und einem Pärchen mit Kind. Jeder zeigt in eine andere Richtung auf jemand anderes. Es wirkt wie Schuldzuweisungen. Ich setze mich neben eine schüchterne Rothaarige, die sanft die Hand gehoben hat. Ich habe mir drei Bücher und die Zeitung mitgebracht, rechne mit drei bis fünf Stunden Wartezeit. Feuilleton-Titel der Berliner Zeitung: „Viel Arbeit, wenig Geld“. Hier haben alle von beidem wenig.

Nach etwa 20 Minuten werde ich aufgerufen und komme zu einer stocksteifen Beraterin, sie schaut mich freundlich, aber unberührt an. Ich stammle, ich hätte drei Monate gearbeitet, sei jetzt aber arbeitslos. Sie fragt mich, ob ich eine Möglichkeit zum Kopieren hätte. Ich verneine, schlage aber vor, ich könne ja in einen Copy-Shop gehen. Sie meint, wenn ich die Unterlagen unkopiert vorlegte, würde es halt länger dauern. Welche Unterlagen?

Sie holt mir ein paar Formulare, gibt mir eine Broschüre und geht mit mir Kreuzchen für Kreuzchen einen dreiseitigen Vorgehensplan durch. Ausweis, ledig, kein Kfz, Haftpflicht? Weiß ich nicht. Kinder? Weiß ich auch nicht. Die Frau findet das nicht witzig. Also weiter: Lebensversicherung? Sparbuch? Meldebescheinigung, Krankenkasse, Sozialversicherungsausweis, Mietvertrag, Heizkostennachweis, Verdienstbescheinigung vom Arbeitgeber, aktueller Kontoauszug.

Ich denke, wer arbeitslos sein will, muss Ordnung haben. Manche Dinge, die ich besorgen soll, schreibt sie von Hand auf die lange Liste. Unter anderem einen Negativbescheid vom Arbeitsamt. Was? Ich denke, ich bin beim Arbeitsamt. Nein, das hier ist das Jobcenter, das Arbeitsamt sei drei Straßen weiter. Ich überlege, die Frau zu fragen, ob sie schon mal Jobcenter auf Deutsch übersetzt hat, lasse aber davon ab. Alles in allem geht es recht schnell. Ich wünsche ein schönes Wochenende und werde hinausgenickt.

9. Januar

Am Wochenende hat auch der Arbeitslose frei. Erst heute, Montag, fange ich wieder an, mich um mein Geld vom Staat zu kümmern. Weil mir eingefallen ist, dass ich wohl kaum ein Kündigungsschreiben von meinem Arbeitgeber bekommen kann, weil mir nie gekündigt wurde, sondern mein Vertrag einfach ausgelaufen war, rufe ich beim Arbeitsamt an, um zu fragen, was ich stattdessen kopieren soll.

Eine Computerstimme bittet mich, Nein zu sagen und „Arbeitslosengeld II“. Nach mehreren solcher Stationen sagt der Computer, das Arbeitsamt dürfe keine Auskunft über „Arbeitslosengeld II, auch bekannt als Hartz IV“ geben – und legt auf.

Verdutzt blicke ich auf das Telefon und wähle erneut. Dieses Mal sage ich nur Nein, aber nicht „Arbeitslosengeld II“, sondern warte, um „automatisch mit einem Servicemitarbeiter verbunden zu werden“. Musik ertönt, es knistert, dann sagt dieselbe Stimme von eben: „Aufgrund der hohen Anruferzahlen ist es uns leider nicht möglich, Ihren Anruf persönlich zu bearbeiten, bitte rufen Sie später noch einmal an.“ Der Computer legt auf. Ich beschließe, das Problem zu vertagen.

Nach dem wenig motivierenden Gespräch mit dem Computer mache ich mich auf die Suche nach dem Arbeitsamt für den Negativbescheid. Ich finde die „Agentur für Arbeit“ am beschriebenen Ort, gleich neben einem Geschäft für Arbeitskleidung (!). Auch hier muss ich nicht warten, renne noch im Erdgeschoss zum ersten Schalter und frage nach dem Negativbescheid. Ob ich in den letzten 13 Monaten abgabenpflichtig gearbeitet hätte, fragt mich die Dame, ich verneine, sage, ich hätte zuletzt studiert und Praktikum gemacht. „Studiert?“, fragt sie erstaunt. „Und? Abgebrochen?“ – „Nein, ist das strafbar?“ Nein, aber dann müsste ich eigentlich in das Arbeitsamt für Akademiker, das sei am anderen Ende der Stadt, sie mache eine Ausnahme. Sie schreibt, stempelt und hält mir einen Negativbescheid unter die Nase. „Ich habe in den letzten drei Jahren nicht mindestens 360 Kalendertage versicherungspflichtige Zeiten zurückgelegt.“ Die Poesie des Staates. Zu Hause lege ich eine Klarsichthülle mit meinen Unterlagen an. Ich bin jetzt wirklich ordentlich.

Abends gehe ich den 15-seitigen Meldebogen durch. Ich frage mich und meine Freundin, ob sie ein „nicht dauernd getrennt lebender Ehegatte“, „ein Partner in eheähnlicher Gemeinschaft“ oder ein „nicht dauernd getrennt lebender Lebenspartner“ ist.

10. Januar

Ich wache noch vor dem Wecker auf und lese eine Stunde im Bett. Gegen 12 Uhr radle ich mit meiner Klarsichthülle zum Jobcenter. Diesmal finde ich mich sehr geübt zurecht. Ich setze mich, nachdem ich herausgefunden habe, wer der Letzte in der Reihe ist, in das erste Wartezimmer und lese, dass Ariel Scharon selber atmen kann. Die Leute strömen, einige fragen, ob man keine Nummer ziehen müsse, einige sind ganz geübt. Einer fragt gar nichts, setzt sich einfach.

Wieder geht es ziemlich schnell, bis ich an der Reihe bin. Ich werde der Beraterin zugeteilt, die ihren Arbeitsplatz direkt neben den Wartebänken hat. Jeder kann mir zuhören, sich ein Bild von meiner Lage machen. Es scheint keinen zu interessieren.

Die etwa zwanzigjährige Beraterin leert meine Klarsichthülle und versucht, alles zu ordnen. Sie legt mich im Computer an. In den Formularen habe ich einige Kreuze vergessen oder nicht kapiert, die Angaben über meine Wohnpartnerin sind ganz falsch, schließlich bin ich nicht mit ihr verwandt. Die Beraterin reicht mir ein anderes Blatt und sagt: „Das müssen Sie hier eintragen. Das Blatt sieht zwar genauso aus, ist aber ein anderes.“ Von mir aus. Ich gebe an, wie alt meine Mitbewohnerin ist, wo sie studiert, bei welcher Krankenkasse sie versichert ist. Wer arbeitslos ist, muss seine Mitmenschen kennen! Das genügt nicht, ich soll eine Kopie von Ausweis, Studienbescheinigung und Krankenkassenkarte meiner Mitbewohnerin nachreichen, das gehe auch per Post, zu Hd. Team 178. Team 178 – wow, das klingt ja richtig nach Geheimdienst.

Irgendwann erzählt mir die Beraterin, dass sie Sozialrentenversicherungskauffrau gelernt habe. In diesem Job könne sie jetzt aber auch nicht arbeiten, „das haben die doch jetzt alles gekürzt“. Ich frage, ob ich schon die Arbeitslosenzahlen erhöhe, sie nickt und sagt, sie hätten immer gedacht, das höre irgendwann wieder auf, aber die meiste Arbeit bestehe aus Erstanträgen.

Sie verschwindet, geht im hinteren Eck des Raums meine Unterlagen kopieren und bittet mich, den Vermittlungsbogen auszufüllen. Welche Schule haben Sie zuletzt besucht? Welche Schulen haben Sie nach der Grundschule besucht? Ich schätze Jahreszahlen und Schulabgänge, irgendwo kann ich noch mein Studium in eine Zeile quetschen, Praktika und sonstige Erfahrungen interessieren nicht. Es gibt Selbsteinschätzungsfragen, ob man offen sei und flexibel usw. Ich trage überall eine 1 ein, das heißt: trifft zu. Die Frage, ob ich mir ein Auto für einen neuen Job kaufen würde, verneine ich, fühle mich ökologisch verantwortungsbewusst.

Die Beraterin kommt zurück, ich kann meine Dokumente wieder in die Klarsichthülle stecken. Außerdem gibt sie mir ein Papier, darauf stehen zwei Kästchen mit Nummern und Zahlen. Sie sagt, ich solle das Papier immer bei mir tragen, in meinen Geldbeutel stecken, es seien wichtige Angaben wie Kundennummer usw.

Ich nicke, schiebe ihr den Vermittlungsbogen zu und frage, ob man mir damit wirklich einen Job suchen wolle? Sie seufzt, meint, sie finde den Bogen auch Scheiße, aber ich solle nicht gleich so pessimistisch sein. Vorsichtshalber lasse ich mir ein Formular ausdrucken, in das ich alle meine Bewerbungen eintragen kann. Ich bekomme dann pro Bewerbung 5 Euro, aber maximal 260 Euro in einem Jahr. Da kann ich mich ja 52-mal bewerben oder einmal pro Woche. Am Ende frage ich noch, bis wann ich mit Geld rechnen kann. Sie zieht die Stirn kraus und sagt: „Fünf bis sechs Wochen, manchmal zwei Monate.“ Sie hat meinen Kontostand gesehen, davon kann man gut zwei Monate leben. Wenn ich im Minus sei, solle ich mit einem Kontoauszug wiederkommen und fragen, ob man meinen Antrag bevorzugt behandeln könne.

12. Januar

Ich überlege, das Couvert mit den Unterlagen meiner Mitbewohnerin mit dem Fahrrad selbst beim nahe gelegenen Arbeitsamt einzuwerfen. Schließlich radle ich nur hundert Meter bis zur Post und schicke den Brief für 55 Cent. Im Absender gebe ich auch meine Jobcenter-Kundennummer an.

13. Januar

Das Arbeitsamt schickt mir eine Einladung zu einem Gespräch mit einem Betreuer. Ich bin verpflichtet, das Gespräch anzunehmen, und soll Nachweise über bisher getätigte Bewerbungen vorlegen.

16. Januar

Ich finde übers Internet ein Praktikum, bei dem ich sofort anfangen kann. Allerdings ist es unbezahlt. Ich denke, besser als nichts. Füße in Türen.

19. Januar

Ich habe mich ein wenig verplant und komme zu spät zum Gespräch. Gleich hinter der Drehtür im Jobcenter frage ich einen uniformierten Schnurrbartträger, wo ich Zimmer 2039 finden kann. Ich muss an einen Film von Wong Kar Wai denken und hoffe, in besagtem Raum eine schlanke liebesverrückte Asiatin in hochgeschlossenem Kleid zu finden. Die wenigen Worte des Schnurrbartträgers befolgend, steige ich in 2 a aus dem Aufzug und laufe an unendlich vielen Türen entlang. Es sind nur wenige Leute auf dem Gang. Schließlich finde ich 2039, klopfe und betrete ein überheiztes kleines Zimmer, mit Durchgangstür zum Nebenraum.

Ich stelle mich vor und werde von Frau Ende (ein zynischer Nachname für diese Arbeitsstelle, kann sie nicht gleich Feierabend heißen?) freundlich distanziert begrüßt. Frau Ende, alles andere als eine liebeskranke Asiatin, hat meine Unterlagen auf ihrem Tisch liegen. Sie meint: „Wir führen jetzt dieses Gespräch, obwohl wir nicht wissen, ob Ihr Antrag akzeptiert wird.“ Bevor sie beginnt, mich über Rechte und Aufgaben des Arbeitslosen aufzuklären, erfahre ich, dass ich derzeit nicht versichert bin, ich müsse da mit meiner Krankenkasse reden. Das Amt versichere mich erst, wenn meinem Antrag zugestimmt worden sei.

Dann beginnt sie: Ich sei allein stehend und kinderlos, auch müsse ich keinen nahen Verwandten pflegen, und deshalb müsse ich jeden potenziellen Job annehmen, gleichgültig wo in Deutschland. Ich nicke, schön wär’s. Frau Ende meint, wenn man fünf Tage vor dem Vorstellungsgespräch einen Antrag stelle, bekomme man die Fahrtkosten erstattet. Ebenso sei es im Falle eines Umzugs, und das Amt zahle auch die Fahrt zur Arbeit am ersten Tag. „Also immer morgens oder was?“, frage ich. Frau Ende, eine schlanke, biedere Frau mit Pagenschnitt, lächelt sanft, verneint und erklärt, es handle sich tatsächlich um die Fahrt am allerersten Tag zur neuen Arbeit. Vielleicht eine freundliche Geste der Arbeitsvermittlung, denke ich. Ein „Viel Glück, mögen noch viele dieser Fahrten folgen“.

Im Anschluss folgt eine Ausführung, wann das Amt wie viel Geld von den getätigten Leistungen abziehen kann. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass ich nur zwölf Wochen unbezahlt arbeiten darf pro Jahr, man wolle damit der Praktikumwelle entgegenwirken. Ich weise darauf hin, das gehe dann aber auf Kosten der Praktikanten. „Ich weiß“, sagt Frau Ende. Mehr fällt ihr nicht ein. Was denn wäre, wenn ich ein solches Praktikum verschwiege, frage ich, und Frau Ende antwortet, sollte solch ein Fall bei einer Überprüfung herauskommen, gelte dies als Schwarzarbeit. „Auch wenn ich nichts verdiene?“ – „Ja, auch wenn Sie nichts verdienen.“ Das gehe ja auf Kosten des Arbeitslosen, sage ich, und Frau Ende meint: „Ja, das stimmt.“ Ob ich denn lieber zu Hause auf der Couch liegen solle, statt ein unbezahltes Praktikum zu machen? Frau Ende schweigt.

Sie drückt mir einen zweiseitigen Vertrag in doppelter Ausführung in die Hand. Er nennt sich Eingliederungsvereinbarung. Der Vertrag spricht ganz viel von mir und ganz wenig vom Jobcenter. Ich verpflichte mich darin, alle Möglichkeiten zu nutzen, um den eigenen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren, ich verpflichte mich, an jedem Werktag für den „zuständigen Träger“ erreichbar zu sein und nur in Absprache mit dem Amt zu verreisen. Auf Nachfrage erklärt mir Frau Ende, mir stünden 20 Tage Urlaub zu, darin eingeschlossen die Wochenenden, und ich müsse immer melden, wenn ich verreise. Gegebenfalls könne das Amt mir die Reise verbieten oder meine Leistungen um 30 Prozent kürzen. Sie sagt nicht „verbieten“, sondern „nicht zulassen“.

Ich denke, wow, Arbeitslose haben Urlaubstage. Außerdem verpflichte ich mich, sechs Bewerbungen pro Monat zu verschicken und das Internet, die Gelben Seiten und die aktuelle Tagespresse zur Stellensuche zu nutzen. Ansonsten werden mir 30 Prozent abgezogen. Weiter heißt es in dem Vertrag, wenn ich die vereinbarten Pflichten nicht erfüllte, träten die gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsfolgen ein. Unter dem Punkt „Rechtsfolgen“ stehen eine Seite lang schwer verständliche Sätze, die alle eine Kürzung meiner Leistungen zur Folge haben. Meist um 30 Prozent. Frau Ende klärt mich auf, dass auch eine Addition von Kürzungen möglich sei. Wenn ich mich zum Beispiel nicht sechsmal pro Monat bewerbe und ein Treffen beim Amt nicht wahrnehme, würden zweimal 30 Prozent abgezogen. Ich frage, ob denn auch schon einmal 150 Prozent abgezogen wurden, was Frau Ende sehr ernst verneint und sagt, mehr als 100 Prozent würden nicht abgezogen, und selbst dann bekomme man Essensmarken und Einkaufsgutscheine.

Ich überlege, den Vertrag nicht zu unterschreiben. Frau Ende meint, ich sei dazu verpflichtet, sollte ich es nicht tun, würden meine Leistungen um 30 Prozent gekürzt. Das Wort Erpressung spreche ich nicht aus.

Das Amt hat mir gegenüber viel weniger Verpflichtungen, und was die Rechtsfolgen angeht, steht beim Jobcenter irgendwo der Satz: „Ist eine Nachbesserung tatsächlich nicht möglich, muss er [der Vertragspartner Jobcenter] folgende Ersatzmaßnahme anbieten: entfällt.“ Na toll. Irgendwie fühlt man sich bei Frau Ende die ganze Zeit ein bisschen übers Ohr gehauen und erpresst. Alles ist Verpflichtung und kann geahndet werden, für alles werden 30 Prozent abgezogen, sogar fürs Umsonstarbeiten.

Zuletzt schaut Frau Ende auf ihren Monitor und meint, derzeit lägen für meinen Bereich keine Jobangebote vor, das sei überhaupt ein Bereich, in dem sie kaum vermittelten, da läge eigentlich alles bei mir. Als ich frage, ob sie denn auch Volontäre vermitteln, verneint sie lächelnd, nein, das sei nicht ihre Aufgabe, dafür sei ich selbst zuständig. Nach diesem Gespräch kommt mir das ganze Amt zweifelhaft vor, die Hilfe ist gespielt, die Betreuer sind verbittert von ihrer erfolglosen Arbeit, da sie kaum vermitteln, sondern nur Prozente von den Leistungen abziehen.

Ich verlaufe mich auf dem Weg nach draußen, stelle mir vor, bald mit Essensmarken bei einer Obdachlosenspeisung zu essen, setze mich auf mein Fahrrad und fahre zu meinem unbezahlten Praktikum. Heimlich.

23. Januar

Über einen Bekannten bekomme ich ein Vorstellungsgespräch am anderen Ende der Republik. Sofort fällt mir das großzügige Jobcenter ein. Wenn ich gleich anrufe, bin ich noch fünf Tage vor dem Vorstellungsgespräch und bekomme die Fahrtkosten erstattet!

Nachdem ich die 16-stellige Telefonnummer gewählt habe, die mich mit Frau Ende verbinden soll, meldet sich Frau Anton. Also frage ich eben sie, was ich tun muss, um die Fahrtkosten erstattet zu bekommen. Eigentlich hätte ich das hiermit schon beantragt, meint Frau Anton. „Es reicht, wenn Sie das vor dem Gespräch tun, es müssen nicht unbedingt fünf Tage sein.“ Frau Anton verspricht, mir das nötige Formular zuzuschicken. Ich solle mir von der potenziellen Arbeitsstelle eine Bescheinigung geben lassen, dass ich da war und die Fahrtkosten nicht übernommen wurden. Außerdem dürfe ich mir für 16 Euro ein Hotelzimmer nehmen. Sollte in den 16 Euro allerdings das Frühstück inbegriffen sein, würden 5 Euro abgezogen. In was für Hotels wohl jemand schläft, der sich so etwas ausdenkt?

27. Januar

Am Tag des Vorstellungsgesprächs schickt mir das Amt ein Formular. Es heißt „Antrag auf Gewährung zur Fahrtkostenbeihilfe“. Bei genauerer Betrachtung finde ich keine Lücke, wo ich reinschreiben könnte, wohin ich gefahren bin und was der Zug gekostet hat. In dieses Formular kann man nur eintragen, ob man eine Monatskarte hat, wie oft man zur Arbeitsstelle fährt und ob man dort übernachtet. Es ist eindeutig das falsche Blatt. Ich wähle wieder die 16-stellige Nummer und werde von einer dritten Frau begrüßt. Sie fragt mich nach meiner Kundennummer und meinem Geburtsdatum und meint, es sei eingetragen worden, dass ich Fahrtkosten beantragen will. „Das haben die Kollegen vielleicht falsch verstanden und Ihnen das falsche Formular zugeschickt. Ich schicke Ihnen das richtige.“

31. Januar

Ein Amt in Nürnberg berichtet von mir. Endlich stehe ich mal in der Zeitung. Die Arbeitslosenquote lag im Januar bei 12,1 Prozent, das sind über 5 Millionen, und ich bin einer davon. Ich habe richtig das Gefühl, etwas geschaffen zu haben. Gegenüber Dezember sind es sogar 400.000 neue Arbeitslose, da bin ich auch dabei. Ich stehe knapp davor, namentlich erwähnt zu werden. Dann wird aber über den Vorjahresjanuar gesprochen und über die Kälte. Außerdem sei die Zahl nur so gestiegen, weil sich so viele Alte gemeldet hätten. Das bin ganz und gar nicht ich.

8. Februar

Das richtige Fahrtkostenantragsformular ist immer noch nicht da. Ich wähle die 16-stellige Nummer, tanze fünf Minuten zur Warteschleifenmusik und spreche mit einer vierten Frau. Wieder muss ich alle persönlichen Daten herunterbeten. Schließlich meint sie, da sei etwas eingetragen von einem Formular. Sie würde es aber vorsichtshalber selbst noch mal losschicken.

9. Februar

Ein Brief vom Jobcenter. Na also. Habe ich wohl zu voreilig angerufen. Hätte ich halt noch einen Tag gewartet. Man darf nicht immer alles auf die Beamten schieben.

Als ich den Brief öffne, erkenne ich sofort, dass es nicht das Fahrtkostenerstattungsformular ist. Viel zu kleine Schrift. Ich halte es zunächst für die Zusage, dass ich jetzt Hartz IV beziehe, schließlich habe ich die noch nicht bekommen. Geschweige einen Pfennig Geld. Dann lese ich „… freue ich mich, Ihnen folgende Arbeitsstelle vorschlagen zu können: Tätigkeit: Volontär/in, Betrieb: Agentur für Öffentlichkeitsarbeit (AFÖ).“ Anforderungen: bla bla. Hochschulabschluss dringend notwendig! Arbeitsort: Stuttgart-Feuerbach, Lohn: 1.000 Euro, Vollzeit ab sofort.

Am Ende folgt die Anweisung, ich solle mich umgehend per E-Mail bewerben, genauere Angaben zur Stelle erführe ich beim Vorstellungsgespräch. „Bitte beachten Sie Blatt 2! Mit freundlichen Grüßen Ihr/e Jobcenter.“ Obwohl es mich ein bisschen ärgert, vom ganzen Jobcenter unpersönlich angeschrieben zu werden, bin ich überwältigt. Ich hätte nie damit gerechnet, tatsächlich einen Job angeboten zu bekommen. Und dann noch ein Volontariat. Es hat nur einen Haken, es ist am anderen Ende der Welt (Feuerbach klingt so nach Purgatorium), und ich bin alles, nur kein PR-Mensch. Da müsste ich jetzt wohl Flexibilität beweisen.

Ich lese Blatt 2: ein Formularvordruck, ab wann ich eingestellt bin, warum ich nicht eingestellt wurde, warum ich mich nicht vorgestellt habe und ob ich an weiteren Angeboten interessiert bin. Auf der unteren Hälfte der Seite eine Rechtsbelehrung: Wenn ich nicht bereit bin, die umseitig angebotene Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, werden meine Leistungen gekürzt: um 30 Prozent.

Ich lege den Zettel auf meinen Schreibtisch und schaue ihn lange an. Irgendwie macht er meinen ganzen „Wir sind Hartz IV“-Artikel kaputt. Ich wollte damit doch aufzeigen, wie langsam und bürokratisch das Arbeitsamt arbeitet, und jetzt bieten sie mir nach einem Monat schon eine Stelle an, auf die ich mich bewerben soll. Wieso gibt’s denn dann so viele Arbeitslose?

11. Februar

Ich bekomme wieder einen Brief vom Jobcenter. Es ist der lang ersehnte Fahrtkostenantrag. Doch was sehen meine müden, arbeitslosen Augen, als ich das Formular genauer betrachte? Es sieht genauso aus wie das erste Formular. Wieder werde ich aufgefordert einzutragen, zu welcher Arbeit ich gefahren bin. Ich sehe in meinen Aufzeichnungen nach und stelle fest, dass das aktuelle Formular nicht „Antrag auf Gewährung zur Fahrtkostenbeihilfe“, sondern „Antrag auf Gewährung zur Reisekostenbeihilfe“ heißt. Allerdings ist mir immer noch unklar, wie ich diese Seiten ausfüllen soll. Seite 3 von 4 ist ganz leer, nur im oberen rechten Eck steht „Unterschrift des Antragstellers“. Ich beschließe, meine Zugtickets und die Anwesenheitsbestätigung der Arbeitsstelle zu kopieren und beizulegen. Soll sich das Amt darum kümmern.

Schließlich gebe ich den Brief doch persönlich beim Amt ab, ich will erklären, warum das Datum Wochen hinter dem Vorstellungstermin liegt. Die Frau an der Information meint, ich solle das meiner Betreuerin erzählen. Beinahe wäre mir rausgerutscht, dass ich keine Zeit habe, weil ich arbeiten muss, aber ich arbeite ja schwarz und umsonst (Wenn ich das sage, werden mir 30 Prozent abgezogen …). Also lege ich einen Brief an Frau Ende bei, in dem ich mein Problem erkläre. Wenn das Praktikum vorbei ist, werde ich bei ihr persönlich vorbeischauen. Schreibe ich natürlich nicht, nehme ich mir aber vor. (Nachtrag: Ende Mai ruft mich das Amt an und entschuldigt sich vielmals. Man habe mir tatsächlich zweimal das falsche Formular geschickt, sie würden jetzt aber das richtige nachreichen.)

19. Februar

Ich brunche für 2,90 Euro im Landgasthof Hasenheide. Das kann ich mir leisten. Mit dabei ein ehemaliger Hartz-IV-Empfänger, jetzt wieder Student. Er erzählt mir, dass er nach zwei Monaten einfach dreimal die Woche zum Amt lief, direkt in den obersten Stock, direkt ins Büro des Direktors, all seine Unterlagen unterm Arm, und fragte, wieso er kein Geld bekäme. Auf diese Weise habe er es geschafft, schlussendlich unterstützt zu werden. Ich denke, wow, dann kriege ich ja nie Geld, ich war bisher nur ein paar Mal auf dem Amt. Die nächsten Tage denke ich viel darüber nach, wen ich als Erstes nach Geld fragen werde: Eltern? Brüder? Freunde?

25. Februar

„Glück ist geschickt, tirili.“ Meine alte Arbeitsstelle ruft mich an. Sie sagen, sie brauchten jetzt doch jemanden. Sie könnten mich sofort wieder einstellen. Ich bin begeistert, sage, ich möchte mein Praktikum noch fertig machen, und vereinbare, ab 1. März wieder für Geld zu arbeiten. Bei näherer Betrachtung meines Kontos kommt mir bezahlte Arbeit sehr gelegen. Mein Konto ist nahezu leer, das Jobcenter schweigt. Es würde mich verhungern lassen.

17. März

Ein historischer Tag. Mein gesamter Artikel ist hin! Ich war Anfang des Jahres ausgezogen, die Schwerfälligkeit des Jobcenters und das schnelle Abrutschen in wirklich beängstigende Zustände in einem Sozialstaat in Tagebuchform festzuhalten. Nicht nur, dass mir nach kaum einem Monat vom Arbeitsamt ein Job angeboten wurde, nicht nur, dass ich recht wenig Zeit in Warteschlangen und miefigen Büroräumen verbringen musste, nein, auch dies: Heute schickt mir das Amt einen Bescheid: „Für Sie werden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 6. 1. 2006 bis 30. 6. 2006 in folgender Höhe bewilligt: 557,37 Euro pro Monat.“ Außerdem kommt das Arbeitsamt für meine Krankenversicherung auf und zahlt Pflichtbeiträge zur „Rentenversicherung der Arbeiter“.

Das ist Humor. Sollte ich mit 67 immer noch arbeitslos sein, kann ich nahtlos in den Rentnerstatus wechseln. Sicherlich sind mit 557,37 Euro keine Luftsprünge möglich, aber mehr hatte ich als Student auch nicht. Interessant ist, dass ich als Alleinstehender, in den alten Ländern (plus Ostberlin) wohnend, 345 Euro monatliche Pauschale für den Lebensunterhalt bekomme, die in meinen Bezügen nach Hartz IV enthalten sind. Würde ich drei U-Bahn-Stationen weiter wohnen, wären es nur 331 Euro. Das Leben scheint hier 14 Euro mehr wert zu sein.

4. April (Epilog)

Ich muss mir freinehmen, um meine Dinge mit dem Jobcenter zu klären, man kann ja nichts telefonisch besprechen. Ich stelle mir vor, zwischen all den Arbeitslosen zu stehen und zu fragen, ob sie mich vielleicht vorlassen würden, ich müsste gleich zur Arbeit. Aus Angst vor Prügeln schweige ich.

Eine Frau am Ende der 16-stelligen Telefonnummer gibt mir einen Termin für heute. Ich soll zehn Uhr dreißig da sein, komme ein wenig zu spät und habe Angst, schon aufgerufen worden zu sein. Der Flur und der recht volle Warteraum wirken hektisch. Ich greife mir eine blonde, über den Gang huschende Dame heraus und frage sie, ob ich denn hier richtig sei. Sie fragt nach meinem Namen, tut dann so, als könne sie etwas damit anfangen, und verweist mich in den Warteraum.

Ich sitze gegenüber einem Mann mit seinem Sohn. Sie machen Späße, kitzeln sich, der Junge erzählt im Flüsterton. Ich frage mich, ob es dem Vater wohl peinlich ist, hier mit seinem Sohn zu sitzen. Ich kann mich nicht daran erinnern, mit meinem Vater in einer Warteschlange beim Jobcenter gewesen zu sein, bin froh, solche Erinnerungen nicht haben zu müssen. Jemand wird von einer Frau aufgerufen, ich frage sie, ob ich meinen Termin verpasst hätte. „Waren Sie zu spät?“, fragt sie, ich nicke. Trotzdem nimmt sie mich mit in ihr Zimmer, sieht auf einer Liste nach und sagt, ich wäre ihrem Kollegen zugeteilt, ich sei noch nicht dran gewesen.

Als Nächstes wird ein Herr Freud aufgerufen. Ich denke, ich sei gemeint, springe hektisch auf. Der echte Herr Freud und ich sehen uns kurz an, ein Duell, ich setze mich wieder.

Wenig später bin ich tatsächlich dran. Ein riesiger weißhaariger Mann mit tiefer Ruhrpottstimme bittet mich zu sich. Er ist erstaunt, dass ich melden will, zu viel Geld bekommen zu haben, Hartz IV für März und April. Das komme nicht oft vor, sagt er und lacht aus dem Bauch heraus. Wann ich meinen ersten Lohn bekommen hätte, will er wissen, ich weiß es nicht genau. „Das kann von Vorteil für Sie sein“, sagt er. „Hartz IV geht nach dem Eingang der Zahlung. Wenn Sie Ihren ersten Lohn erst am 1. April bekommen haben, dürfen Sie die März-Zahlungen behalten.“

Kontoauszüge habe ich nicht dabei, kann aber kurz bei ihm ins Internet, via Online-Banking stellen wir fest, dass mein erster Lohn bereits am 31. März verbucht wurde. Der Mann ärgert sich fast mehr als ich. Ich sage ihm, das sei ja nicht im Sinne des Erfinders, Lohn und Hartz IV zu kriegen, er schweigt. Entweder hält er mich für blöd oder für ehrenhaft. Vielleicht beides.

Wie ich das Geld zurückzahlen wolle, will er wissen und macht große Augen, als ich meine, wieso nicht alles auf einmal. „Das sind immerhin gut 1.100 Euro“, sagt er. Na und, denke ich und lasse mich ihm zuliebe überzeugen, in zwei Raten zu bezahlen. Gerade als er es eintippen will, erscheint ein Warnfenster auf seinem Bildschirm, der Server sei überlastet, er solle sich frühestens in 30 Minuten noch mal anmelden. Er verspricht mir, alles zu erledigen, ich würde dann vom Zoll einen Brief erhalten, der Zoll sei das Inkassobüro für alles Staatliche. Von mir aus, irgendwas müssen die ja auch zu tun haben. Er verabschiedet sich und hofft, ich möge für immer bei meinem neuen Arbeitgeber sein. „Bis zum nächsten Mal“, sage ich, und er: „Hoffentlich nicht.“

844F170606 alias HORST FREUND, 28, lebt in Berlin und plant nun nebenberuflich ein Buch über bürokratische Selbstversuche. KAROLINE E. LÖFFLER, 40, ist Illustratorin, lebt in Berlin und zeichnet zu allen Facetten des Lebens