: Im Abseits
FUSSBALL Ottmar Walter ist der Mittelstürmer der deutschen Weltmeisterelf von 1954. Das dritte Kind der Kaiserslauterer Gastwirtsleute Walter. Das erste heißt Fritz
■ Ottmar Walter war Fußballer, Autoschlosser und Tankwart, drittes von fünf Kindern einer Gastwirtsfamilie in Kaiserslautern und drittletzter der noch lebenden Helden von Bern, die 1954 die Fußball-Weltmeisterschaft gewannen. Ottmar Walter war 17 Jahre alt, als er 1941/42 Fußballer beim 1. FC Kaiserslautern wurde und 18 Jahre, als er als Freiwilliger zur Marine ging. 1944 wird er auf dem Ärmelkanal versenkt und gerettet. Trotz Verwundung kickt er bald wieder und wird 1950 in die Nationalmannschaft aufgenommen wie schon sein Bruder Fritz. Nach dem WM-Sieg beginnt Ottmars Leben als Normalbürger. Legende bleibt er trotzdem.
VON PETER UNFRIED
Mitte der Sechziger findet man Ottmar Walter in einem kleinen Kabuff seiner Tankstelle. Auf dem Dach leuchtet nachts sein Name. Es ist ein Jahrzehnt her, dass er in Bern Fußballweltmeister geworden ist. Zwei Jahrzehnte, dass ihn die Engländer erst versenkt haben und dann aus dem Ärmelkanal gefischt. Jetzt sitzt er in dem Kabäusle, trägt blauen Kittel, macht Bürokram und stellt Bekannten eine Tasse Kaffee hin, wenn sie zum Tanken kommen. Es heißt ja nicht umsonst: Willst du unserem Ottmar danken, musst du fleißig bei ihm tanken. Gleich nebenan ist eine Gaststätte, da spielen sie Karten, hochangesehene Bürger von Kaiserslautern, hohe Einsätze. 60, 70 Mark. Walter ist nie dabei. Trinkt auch nichts. Er bleibt in seinem Schreibzimmer.
Heinrich Breyer ist Sportchef bei der Rheinpfalz und schaut regelmäßig samstags im Kabuff vorbei, vor dem Spiel, auf seinem Weg zum Betzenberg. Eines Tages serviert Walter keinen Kaffee, sondern Cognac.
Breyer sagt: „Was ist denn jetzt los, Ottes?“ Und Walter antwortet: „Ich hab gerade die letzte Rate für die Tankstelle abbezahlt, jetzt gehört sie mir.“ Ab da lockert sich seine Disziplin.
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Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Es ist Juli, aber es hört einfach nicht auf zu regnen. Schon bald wird man das Fritz-Walter-Wetter nennen. Der Ungar Bozsik hat Schäfer den Ball abgenommen und treibt ihn auf der rechten Seite nach vorn. Ottmar Walter orientiert sich zurück Richtung Mittellinie, als Bozsik … den Ball wieder an Schäfer verliert. Umschaltkonter. Walter macht kehrt und da kommt auch schon Schäfers Flanke. Er steigt gegen Lantos zum Kopfball hoch, kriegt ihn aber nicht. Als er wieder landet, sieht er, dass Lantos den Ball direkt in die Füße von Rahn geköpft hat und diesem nun entgegeneilt, um einen Schuss zu verhindern. Dadurch steht er jetzt völlig frei. Rahn muss nur passen, denkt er. Aber er weiß auch: Wenn der Boss den Ball einmal hat, gibt er ihn normalerweise nicht mehr her. So ist es. Rahn schlägt einen Haken um Lantos und haut ihn mit links in die linke untere Ecke. Und das ist gut. Denn Ottmar Walter steht im Abseits. Jedenfalls sieht es so aus.
Das 3:2 gegen Ungarn, der deutsche WM-Sieg vom 4. Juli 1954, ist der größte Mythos deutscher Fußball- und vielleicht sogar deutscher Nachkriegsgeschichte. „Ein Wunder über einen schier übermächtigen ungarischen Gegner“, sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer bei der Trauerfeier für Ottmar Walter.
Es ist kein Wunder. Es ist Fußball. So was passiert. Im Fall von Nachkriegsdeutschland passiert es im richtigen Moment. Neun Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation wird dieser Sieg als Triumph des Klitzekleinen gegen die riesigen Ungarn interpretiert, errungen durch List, Kameradschaft und Willen. Das kollektive Gefühl wird in die Worte gefasst: „Wir sind wieder wer.“ Auch wenn nicht wenige im Wankdorf-Stadion die erste Strophe der Nationalhymne singen (die dritte kennt praktisch keiner), meint das nicht: Wir sind eben doch die Größten. Es meint im Wortsinne: Wir waren nichts mehr – und jetzt gibt es uns wieder. Wir sind keine größenwahnsinnigen Mörder und Welteroberer, wir sind gute Jungs, fleißig, bescheiden, sozial und in unserer Region verwurzelt. Und wer nicht brav ist, über den kommt der „Heilige Geist“: Mannschaftsprügel. Nach dem Angriffskrieg gegen die ganze Welt und dem Holocaust gibt es erstmals wieder positive Verknüpfung mit Deutschland.
Bei der Siegerehrung in Wankdorf stehen sie noch da wie auf einer Beerdigung: Fritz Walter, Turek, Liebrich, Ottmar Walter – die Gesichter hager, die Augen leer. Bald darauf werden sie dargestellt wie ein glücklicher, dem Vergessen dienender Heimatfilm der Fünfziger. In den Hauptrollen: Sepp Herberger als „der Chef“, vormals Hitlers Reichstrainer, ein autoritärer, aber gutherziger Vater. Fritz Walter als „Friedrich“, sein bedingungslos treuer Kapitän, ein Fußball-Genie, aber bescheiden wie kaum einer. Dazu Siegtorschütze Helmut Rahn als „der Boss“, ein Individualist, der mal über die Stränge schlägt, aber vom Chef und seinem Stubenpartner Friedrich immer wieder in die Kameradschaft reintegriert wird.
Und „der Ottes“, Ottmar Walter? Er ist der Mann, der den ungarischen Stopper Lorant aus dem Deckungszentrum gelockt hat, aber so was weiß keiner und will keiner wissen. Die Helden-Rolle ist an den Bruder vergeben.
Während der Fritz mit seiner authentischen, bescheidenen Art schnell beliebt wird, durch Herbergers Kontakte berufliche Fehlschläge unauffällig überwindet und mit seinen WM-Büchern auch die Deutungshoheit übernimmt, neigen die meisten anderen Weltmeister nicht zum charmanten Plaudern. Ottmar Walter schon gar nicht. Er gilt als „ruhig“, fast verschlossen. Manchmal schreckt er nachts hoch, wenn ihm die Bilder von Bern im Schlaf erscheinen. „Menschenskinder, du musst dich doch drüber freuen“, denkt er dann.
Irgendwann wird seine Geschichte als die eines Mannes erzählt, der immer im Schatten dieses Bruders steht und dem Alkohol verfällt. Das ist die Phase, über die die Zeitzeugen sehr ungern sprechen. „Der Ottmar hat immer hart gearbeitet“, sagt Horst Eckel am Telefon. Eckel ist einer von fünf Weltmeistern des 1. FC Kaiserslautern, war mit 22 Jüngster im Team und ist dessen einzige verbliebene Stimme. Hans Schäfer lebt auch noch, aber spricht kaum. Ottmar, sagt Eckel, als wolle er die Gefahr bannen, sei morgens als Erster in seine Tankstelle gekommen und abends als Letzter gegangen. „Der Ottmar war ein sehr guter Kamerad.“
Eckel lebt zeit seines Lebens in Vogelbach, dreißig Kilometer östlich von Kaiserslautern. Nach ihrer aktiven Laufbahn sehen sie sich samstags auf der Tribüne des Betzenbergs. Und wenn er bei Ottmar Walter tankt.
Fritz war ein Genie. Und Ottmar? „Ottmar war der Mann, der die Tore gemacht hat“, sagt Eckel. Vier bei der WM 1954. Und 295 in 275 Spielen für den 1. FC Kaiserslautern, mit dem er zweimal Meister wird (1951 und 1953) und dreimal Vize.
Es ist keine Frage, dass Ottmar Walter ein herausragender Fußballer ist. Bis Mitte der Fünfziger wohl der beste Mittelstürmer Deutschlands. Kopfballstark, aber kein klassischer Brecher, sondern auch spielender Mittelstürmer. In der Luft mindestens so gut wie sein für Kopfbälle berühmter Nationalmannschaftsnachfolger Uwe Seeler, aber technisch deutlich besser, sagt Sportjournalist Breyer. Zusammen mit Fritz Walter (links), Morlock (rechts) und Horst Eckel (hinten) bildet er ein variables Quadrat, das das deutsche Offensivspiel entwickelt. Ottmar und später Eckel holt Herberger auf Empfehlung seines Spielmachers, den er bereits 1938 entdeckt hat. Alles wird vom Chef um seinen geliebten Friedrich herum sortiert. Was konsequent ist: Fritz Walter ist der deutsche Jahrhundertfußballer. Neben oder vor Beckenbauer. „Ohne die anderen wäre ich nichts“, sagt Fritz mal zu den anderen. Sein Mitspieler Werner Liebrich antwortet: „Und wir ohne dich gar nichts.“ Eckel, damit konfrontiert, meint: „Was soll man sagen? Es war so.“ Ottmar Walter sagt in der SWR-Dokumentation: „Vorm Fritz musste man Respekt haben.“
Dass Ottmar keinesfalls unter der Größe und dem Ruhm vom Fritz gelitten hätte, diese Ansicht vertreten die Zeitzeugen entschieden. Ottmar machte auch legendäre Spiele ohne Fritz. Aber bessere mit ihm. Fritz war ein Sensibelchen und konnte binnen Sekunden verzagen, Ottmar habe ein „viel größeres Selbstbewusstsein“ gehabt, schrieb der Bruder einmal, und ihn dann mitgezogen. Es gibt sensationelle Geschichten, wie Fritz und Ottmar durch Intuition, Klasse und Partnerschaft andere Mannschaften auseinandernahmen. Die Brüder hätten sich auf dem Feld blind verstanden und voneinander profitiert.
Fritz ist das älteste von fünf Kindern der Gastwirtsleute Ludwig und Dorothea Walter. Ottmar ist das dritte Kind und vier Jahre jünger als der Fritz. Die Eltern führen in der Bismarckstraße 24 eine Kneipe, die später Vereinsgaststätte des 1. FC Kaiserslautern wird. In der engen Gasse vor der Kneipe lernt Ottmar vom großen Bruder das Fußballspielen. Mit acht geht er auch zum FCK, aber der Vater sagt ihm, dass das doch eh keinen Sinn habe. Er werde nie so gut wie der Fritz. Der ist schon mit 17 der Liebling aller FCK-Fans, mit 19 stellt ihn Reichstrainer Herberger das erste Mal auf. Aus Hitlers Weltkrieg kommt er als Unteroffizier der Luftwaffe heil und dank einer glücklichen Fügung noch im Herbst 1945 zurück.
Ottmar Walter hat auch Glück, aber anders. Er wird mit 18 Matrose. 1944 ist er auf einem Minenräumboot im Ärmelkanal unterwegs, als die Engländer angreifen. In einer Fernsehreportage des SWR erzählt er, wie es um 2 Uhr nachts plötzlich taghell wird, die Hölle losbricht und sie versenkt werden. Nur die Fakten, kein Wort zu viel. „Ich war einer der Glücklichen, die rauskamen und aufgefischt wurden.“ Mehr Emotion ist nicht. Er landet in einem Alliierten-Kriegsgefangenenlager, voller Kugeln und Splitter. Er lebt, aber Fußball kann er wohl vergessen. Da kommt ein deutscher Marinearzt und sagt: „Sie sind Ottmar Walter, ich habe Sie spielen sehen.“ Er spielte im Krieg für Holstein Kiel und schoss drei Tore gegen Schalke.
Der Arzt ist Kiel-Fan und operiert ihn. Im Herbst 1946 ist Walter zurück, die Knie werden nicht mehr ganz, aber es geht. Am schlimmsten an der Kriegsgefangenschaft sei der Gedanke gewesen, nie mehr Fußball spielen zu können, sagt er.
Dann spielen sie wieder Fußball und nur noch Fußball. „Über Krieg wurde bei uns nicht gesprochen“, sagt der nachgeborene Eckel. „Reden wir nicht vom Krieg, reden wir vom Fußball“, sagt Fritz. Wie immer klingt es bei ihm wie ein Vorschlag, aber es ist klar, dass sie es dann genauso machen. Von Politik wollen sie nichts mehr wissen. Damit sind sie repräsentativ für die Gesellschaft. 1948 heiratet Ottmar seine Anneliese, eine der begehrtesten Frauen in Kaiserslautern. Zwei Jahre später kommt Ottmar junior. Wie kommst denn du an so eine Frau, Ottes, fragen ihn die Mitspieler. Er pfeift einen Hit aus der Operette „Im weißen Rößl“: „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist“. Ab da nennen sie ihn Sigismund.
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In seinem Tankstellenkabuff steht ein Schrank und auf dem stehen mehrere Einmachgläser. „Was ist denn da eigentlich drin?“, fragt ihn Sportjournalist Breyer eines Tages. „Das sind meine Knieknorpel“, antwortet Walter. Manchmal schaut er rauf. Nachdem die Tankstelle abbezahlt ist, trägt er das Geld nach Bad Dürkheim. Ins Casino. Er ist kein ständiger Gast, aber verliert regelmäßig. Dann trinkt er sich einen an. Er will sich zusammennehmen, aber als er mal wieder so nach Hause kommt, sagt Anneliese, dass sie auszieht. Im Januar 1969 liegt er mit aufgeschnittenen Pulsadern im Krankenhaus.
Es kommen die drei Menschen an sein Bett, vor denen er am meisten Respekt hat im Leben. Seine Frau, sein Bruder Fritz und der Chef: Sepp Herberger. Sie sagen: Ottes, entweder du änderst dich oder wir wenden uns vollkommen von dir ab.
Er ändert sich. Die Tankstelle ist weg, aber er bekommt eine Stelle bei der Stadt Kaiserslautern, arbeitet fleißig bis 65, bezahlt die Schulden, lebt mit Anneliese in seinem Haus in der Tannenstraße, und wenn die anderen auf den Feiern mit Fritz-Walter-Sekt anstoßen, hat er Saft im Glas. Die allgemeine Sprachregelung ist, dass das ein „Ausrutscher“ war. Alles. 1973 tritt er neben Fritz, Eckel und den anderen im „Blauen Bock“ auf, einer populären Unterhaltungssendung des ZDF. Er ist jetzt ein graumelierter, gut aussehender Endvierziger. Sagen darf er nichts. Das ändert sich erst 2002, nach dem Tod des Bruders.
Ottmar Walters Trauerfeier ist im Fritz-Walter-Stadion. Nach einer Bach-Fuge in g-Moll und der Beschwörung des Mythos von Bern fasst die Ministerpräsidentin die späteren Jahre des Verstorbenen in vier Worte. „Leidige Kriegsverletzung“, sagt sie, „berufliches Pech“. Wegen der Knie muss er aufhören, an den Knien wird er auch nach dem Fußball mehrfach operiert, wegen der Knie sitzt er dann im Rollstuhl. Das steckt er auch weg. Wie die Kränkung durch den Vater, das Trauma des Krieges, seine existenzielle Krise im verblassenden Wirtschaftswunder. Er sei Gott sei Dank „sehr robust“ gewesen, sagt sein Weggefährte Heinrich Breyer. Irgendwann kommt noch Alzheimer. Ottmar Walter stirbt am 16. Juni diesen Jahres in einem Pflegeheim in Kaiserslautern.