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Archiv-Artikel

Versponnene Bäume

Wie kleine Aliens fallen Gespinstmotten über einige Baumsorten her und fressen sie kahl. Naturschützer mahnen zur Gelassenheit: Mit dem Johannestrieb wird Ende Juni alles wieder grün

aus Hamburg-Rahlstedt:KAIJA KUTTER

Seit schon der Kindergarten über die Entstehung der Schmetterlinge aufgeklärt hat, gelten im Garten alle Raupen als heilig. Auch Pflanzen wie die Brennnessel, von denen sich die Raupen ernähren, darf kein Leid zugefügt werden. „Lass doch, Mama“, mahnte der Sohn, als vor zwei Jahren einem mit seltsamen silbernen Fäden versponnenen Ästchen die Schere drohte, „da werden schöne Falter draus.“

Damals waren es nur einige wenige Raupennester an einer einzigen „Traubenkirsche“, einem eher unauffälligen Gewächs mit für den Menschen ungenießbaren schwarzen Beeren, die gern von Vögeln gegessen und als Samen weiterverbreitet werden. Ganz schön oft, wie in diesem Jahr plötzlich auffällt: Statt einer gibt es vier Traubenkirschen und alle sehen aus wie Gespenster ohne Blätter, ein Strauch ist sogar bis in zehn Meter Höhe ratzekahl leer gefressen. Und ausgerechnet am Garteneingang steht auch so ein Geäst mit grauen Schleiernestern, in dem sich die Raupen wie Aliens zu Dutzenden schlängeln.

Soll man die Säge holen? Alles abholzen? Ist wie bei den Nacktschnecken mal wieder das biologische Gleichgewicht aus dem Lot, weil natürliche Feinde fehlen? Ein Nachbar, der um die Ecke das gleiche Schauspiel sieht, macht Fotos und schickt sie dem Naturschutzbund (NABU). Dort weiß der Biologe Bernd Quellmalz eine Erklärung für die weißen Schleier: die Traubenkirschen-Gespinstmotte, eine Falterart. Ihre Raupen mögen nur wenige Blätterarten, was die Gefahr berge, dass sie auf der Suche nach einer neuen, nicht befallenen Pflanze verhungerten. Damit sie dabei nicht von Vögeln oder Schlupfwespen gefressen werden, spinnen sie „alles ein, was ihnen in den Weg kommt“, sagt Quellmalz, sogar „Gräser, Zaunpfosten und ganze Bänke“. Einmal satt gefressen, wandern die Tierchen in den Fuß des Baumstammes, wo sie sich verpuppen und später als Motte schlüpfen. „Ist das Netz einmal ausgebildet, lassen sich die Raupen kaum noch bekämpfen“, so der NABU-Sprecher: Schäden würden von „Wächterraupen“ repariert, die etwas länger leben.

„Wir haben in diesem Jahr viele Anrufe wegen der Gespinstmotte“, sagt auch Gregor Hilfert vom Hamburger Amt für Pflanzenschutz. Durch die milden Winter habe sich deren „Population hochgeschaukelt“. Weil aber auch Krankheitskeime unter den Tieren wie auch die Zahl der natürlichen Feinde zunähmen, sei damit zu rechnen, dass diese Population „irgendwann“ wieder zusammmenbreche.

Hilfert und Quellmalz mahnen zur Gelassenheit. Gift einzusetzen etwa schade nur den Fressfeinden. Und hektische Aktionen mit der Astschere schädigten „den Baum jetzt mehr als die kahl gefressenen Blätter“, gibt Hilfert zu bedenken. Der gespenstische Anblick sei von kurzer Dauer. Denn mit dem „Johannestrieb“, benannt nach dem Tag des heiligen Johannes am 24. Juni, würden die Bäume neue Blätter bilden: „Spätestens Mitte Juli ist alles wieder grün.“