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Archiv-Artikel

Voll entwickelt

UNIKAT Kunst statt Industriefotografie: Die größte Selbstbildkamera der Welt schießt lebensgroße Porträts

VON KATHLEEN FIETZ

Kurz vor dem großen Moment reißt die Strumpfhose. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Nicole Patz schießen die Tränen in die Augen. Fast fünfhundert Kilometer sind sie und ihr Freund aus dem Münsterland gefahren. Sie hat ihr kurzes Schwarzes und hohe Stiefel, er sein Lieblingsshirt eingepackt. Für ein lebensgroßes Foto von ihnen aus der größten Selbstbildkamera der Welt. In die Zeit der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie reist Nicole Patz nun also mit einer Laufmasche über dem Knie.

Sieben mal vier mal drei Meter misst die schwarze Kamera Imago 1:1, die ihre Besucher in Echtgröße porträtiert. Im Bauch der Kamera probiert sich das Paar vor einem Spiegel aus. Einen Fotografen gibt es nicht, das Paar wird selbst auf den Auslöser drücken. „Ihr bestimmt euer Bild. Überlegt euch, was ihr im Licht und was im Schatten haben wollt“, sagt die Künstlerin Susanna Kraus. Die 53-Jährige nimmt sich für ihre Kunden je eine Stunde Zeit. Geduldig erklärt sie die Technik, beschreibt, wie das Objektiv das Bild direkt auf einen Bogen Spezialpapier in der dunklen Nachbarkabine projiziert. Anders als beim Fotografieren mit Film und Negativ-Belichtung wird hier das Bild auf ein Positivpapier geworfen. Im Entwicklungsbad entsteht daraus ein zwei Meter langes und 60 Zentimeter breites Schwarz-Weiß-Unikat.

Ebenso schwarz-weiß ist auch das Studio in einem Berliner Hinterhof. Schwarze Decken-Scheinwerfer, weiße Wände, in der Ecke thront der schwarze Koloss, die Imago-Kamera. Einzig ihr rotes Gerüst sticht hervor. Zwei Riesenkesseln gleichen die Licht- und die Dunkelkammer, verbunden sind sie durch eine runde Box, in der das Objektiv steht. An den Wänden hängen einige Einzelporträts, ihre ungewohnte Größe machen die Gesichter lebendig, bei manchen wirkt das Zusammenspiel aus Licht und Schatten wie gemalt.

In Zeiten digitaler Fotografie werden Kraus’ Großformatbilder immer beliebter. Berühmtheiten wie der Künstler Jonathan Meese, der Philosoph Peter Sloterdijk und die Schauspielerin Eva Mattes setzten sich damit bereits ein fotografisches Denkmal. Viele Porträts hat Kraus in Ausstellungen gezeigt. Aber jeder könne sich bei ihr ein eigenes Kunstwerk erschaffen, sagt sie.

Monströses Abfallprodukt

Eigentlich ist die Kamera das Abfallprodukt einer Erfindung ihres Vaters Werner Kraus. Der Münchner Physiker hat in den Siebzigern ein Spezial-Objektiv für Daimler-Benz entwickelt, um Verbrennungsprozesse in Motoren zu dokumentieren. Mit einem befreundeten Künstler kam er auf die Idee, die Technik für eine begehbare Sofortbildkamera zu nutzen. Freunde und die pubertierende Susanna Kraus posierten darin, 1974 reiste die Imago zur Nürnberger Weltausstellung der Fotografie. Dann verschwand das für die Aufnahmen nötige Positivpapier vom Markt, die Kamera fiel, verpackt in Kisten, in einen Tiefschlaf.

Bis Susanna Kraus vor sechs Jahren alte Imago-Fotos in die Hände fielen und sie beschloss, die Kamera zu reaktivieren – nicht ahnend, dass daraus für Jahre ein Vollzeitjob werden würde. „Ich war total naiv, hatte weder Ahnung von Fotografie noch war mir klar, wie es schwer werden würde, das Papier aufzutreiben“, erzählt sie. Drei Jahre, Freunde mit Geld und unzählige Telefonate mit Fotofirmen in der ganzen Welt brauchte es, bis sie ein Unternehmen fand, das von ihrer Kamera so begeistert war, dass es das Papier in wirtschaftlich unlukrativen Mengen von jährlich 5.000 Laufmetern wieder herstellt – nur für die Imago. Kraus musste Licht, Blitz und Entwicklungsmaschine neu beschaffen und einbauen, sie brauchte Monate, bis Beleuchtung, Belichtungszeiten und Entwicklung funktionierten.

„Wo sollen wir denn hingucken?“, fragt die Kundin Nicole Patz im Inneren der Kamera. Aus der Dunkelkammer nebenan antwortet Kraus: „In die Kamera oder ihr guckt euch über den Spiegel gegenseitig an.“ Und verspricht, dass man die Laufmasche auf dem Foto nicht sehen wird. Ihre präsente Stimme verrät ihren eigentlichen Beruf: Als Schauspielerin hat sie auf großen Bühnen gespielt, fürs Fernsehen, in Filmen. Für den Wiederaufbau ihrer Imago lehnte sie einige Rolle ab.

Die Frisur von Nicole Patz sitzt, ihr Freund zieht den Bauch ein. „Oh Mann, bin ich aufgeregt, ich zittere richtig“, sagt Patz. Den 300 Euro teuren Fototermin hat sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Er drückt auf den Auslöser in seiner Hand, der Blitz knallt. Zehn Minuten dauert es, dann ist das Foto entwickelt.

„Reise zum unbekannten Ich“, nennt der 86-jährige Vater von Susanna Kraus das Fotografieren in der Imago heute noch. „Die Frage, wer wir sind, treibt uns alle um, deshalb kommen die Leute her“, sagt sie. Die Fotos geben eine Antwort, glaubt sie: Die reduzierte Technik lasse die wahre Persönlichkeit zutage treten. Manchmal seien die Fototermine wie eine Therapie, auch einen handfesten Familienstreit habe sie in der Kamera schon erlebt.

„Du siehst toll aus. Aber ich?“ Nicole Patz steht unsicher vor dem fertigen Foto. Es zeigt sie hell ausgeleuchtet, ihren Freund im Halbschatten dahinter. Kraus verspricht, dass dieses anfängliche Befremden weggehe. Im Münsterland wartet bereits eine Wand im Flur auf das Porträt. Und Kraus hatte recht: Die Grobkörnigkeit der Aufnahme hat die Laufmasche verschluckt.

Mehr zur Imago-Kamera und zur aktuellen Ausstellung von Susanna Kraus in Berlin: www.camera-imago.de