: Im Kampf mit sich selbst
WIEDERENTDECKUNG Die Katastrophe, die Normalität heißt: Richard Yates’ toll kaputter Roman „Ruhestörung“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Man stürzt unvermittelt gleich zu Beginn in eine Hölle. Oder genauer: Man wird hineingestoßen, zusammen mit John Wilder, dem Protagonisten, der alles andere als ein Held ist. Und so wie Altersheime bis heute mit euphemistischen Verkleidungsnamen wie „Schöne Aussicht“ benannt werden, so trägt auch die Hölle in Richard Yates’ erstmals 1975 erschienenem Roman „Ruhestörung“ den schlichten Namen „Bellevue“ – es ist die geschlossene Abteilung für gewalttätige Männer im psychiatrischen Krankenhaus von New York. John Wilder hatte, noch ein Euphemismus, eine Art von Nervenzusammenbruch. Erst im Verlauf des Romans wird sich herausstellen, dass wir es hier nicht nur mit einer Überlastung und überreizten nervösen Störung zu tun haben, und auch, dass Johns Alkoholismus nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom ist.
Yates schickt John Wilder auf eine steile Existenzrutschbahn, Umkehr unmöglich. Richard Yates, geboren 1926 und im Alter von 66 Jahren nahezu unbekannt gestorben, ist ein spät entdeckter Klassiker der amerikanischen Moderne, posthum eingereiht zwischen Autoren wie Carver oder Hemingway. Mit der Verfilmung seines Romans „Zeiten des Aufruhrs“ setzte die Entdeckung Yates’ für ein breiteres Publikum ein; die Entdeckung eines Schriftstellers, der so lange am Bild einer ökonomisch aufstrebenden, sich ihrer selbst gewissen amerikanischen Mittelschicht rüttelte, bis die Risse darin unübersehbar wurden.
„Ruhestörung“ ist paradoxerweise beides zugleich: subtil und feinsinnig in der Figurenführung einerseits, schonungslos und brachial in der Schilderung eines scheiternden Lebens andererseits. Es mag sein, dass Yates sich gleich in zwei im Roman auf eine geradezu zynische Weise verbundenen Charakteren selbst porträtiert hat: zum einen in Wilder selbst mit seinen Alkoholeskapaden und Wahnsinnsanfällen, zum anderen in der Figur des Schriftstellers Chester Pratt, der, wie Yates selbst es auch getan hat, als Ghostwriter für Robert Kennedy und als Drehbuchautor arbeitet.
Doch der Roman hat auch weit über die Vertreibung autobiografischer Geister hinaus große Qualitäten.
„Ruhestörung“ setzt ein im Jahr 1960 und mit der Präsidentschaftskandidatur John F. Kennedys und endet in einem Zeitsprung zehn Jahre später. Da ist Wilder längst schon ruiniert; ein trauriger Mann in einer traurigen Anstalt, ohne Hoffnung darauf, diese wieder verlassen zu können. Das so Frappierende wie Diabolische ist, dass Wilder, gerade einmal 36 Jahre alt, das Gegenteil eines Sozialversagers ist – ein Mann mit einem soliden Job als Anzeigenverkäufer (den er hasst), mit einer Frau, die nicht nur Verständnis für ihn aufbringt, sondern seine Eskapaden mit scheinbar stoischer Gelassenheit erträgt (und die Wilder im Gegenzug längst nicht mehr erträgt), und einem Sohn (dessen psychische Defekte immer offensichtlicher werden).
Eine wunderbar heile, kaputte Familie wird hier vorgeführt, abgesichert von der alles verschleiernden Doppelmoral der frühen Sechzigerjahre. Es ist ein Kampf mit und gegen sich selbst, den der noch dazu mit diversen Minderwertigkeitskomplexen behaftete Wilder führt. Die „Bellevue“-Episode ist nur der Auftakt zu einem unausweichlichen Martyrium, dessen Ursache man schlicht mit dem Begriff der Schizophrenie umschreiben kann.
Widerwillig und voller Ekel absolviert Wilder nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie – die knapp 50 Seiten umfassende Schilderung des Aufenthaltes dort ist ein Meisterstück für sich – die Treffen der Anonymen Alkoholiker; den Sinn einer psychotherapeutischen Behandlung erkennt er erst, als er einen Arzt findet, der ihm schweres Gerät in Form von Psychopharmaka verschreibt. Besser wird dadurch nichts, nur erträglicher nach innen. Der verzweifelte Versuch, sich aus der künstlich am Leben erhaltenen familiären Ordnung zu entziehen und einen neuen Anfang zu wagen, scheitert zwangsläufig – er endet in Wahn, Erlöserfantasien und einer sarkastischen Pointe, in der sich das Drehbuch zu einem Film und Johns Leben nahezu in Deckungsgleichheit befinden, wobei das Skript von verantwortlicher Stelle als klischeebeladen abgelehnt wird.
Die Schauspieler der zurzeit gefeierten amerikanischen Serie „Mad Men“ sollen, so heißt es, vor Drehbeginn zur Lektüre von Richard Yates’ Romanen angehalten worden sein. Das Ambiente ähnelt sich in der Tat – die kühle Eleganz der Agenturarbeitswelt, die Selbstverständlichkeit einer Doppelexistenz von Ehemann und Fremdgänger ebenso wie die Duldsamkeit der Frauen. Was Richard Yates’ Romane, selbst diesen, der in seiner Rohheit und Zügellosigkeit beileibe nicht perfekt ist, weit über das Niveau von noch so guten Fernsehserien erhebt, ist das stets in ihnen rumorende sprachliche Material, das in diesem Fall dem Wahnsinn eine manchmal schwer erträgliche, weil hochintensive Stimme gibt.
Kurz gesagt: All das musste wohl raus, gleich wie.
■ Richard Yates: „Ruhestörung“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Deutsche Verlagsanstalt, München 2010, 316 Seiten, 19,95 Euro