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Archiv-Artikel

Das Innerste soll online gehen

WISSEN Der Harvard-Forscher George Church will die Erbinformationen von 100.000 Menschen ins Netz stellen. Zusammen mit Daten zu Krankengeschichte und Lebensstil

Die Etappen

1 Dezember 1984: Eine Gruppe von Genforschern sitzt im eingeschneiten Bergdorf Alta im US-Bundesstaat Utah fest und entwickelt die Idee des Humangenom-Projekts – die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Mit dabei: der damals 30 Jahre alte Genetiker George Church. 1990 nimmt ein internationales Konsortium die Arbeit auf, drei Milliarden US-Dollar wird das Projekt am Ende kosten.

2 26. Juni 2000: US-Präsident Bill Clinton tritt im Weißen Haus vor die Weltpresse. Er verkündet, dass das menschliche Genom entschlüsselt ist: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben schuf“, sagt Clinton. Neben ihm sitzen der Vertreter des von 17 Staaten finanzierten Humangenom-Projekts, Francis Collins, und Gen-Guru Craig Venter, der mit seiner Privatfirma Celera das Rennen um die Entschlüsselung des Genoms aufgenommen hatte.

3 2010: Harvard-Professor George Church will für sein „Personal Genome Project“ 100.000 Freiwillige gewinnen, die ihr Genom sequenzieren lassen und den DNA-Code ins Internet stellen – zusammen mit Krankenakte und Infos zu Ernährung und Lebensstil. Noch dieses Jahr sollen die Daten von 1.000 Teilnehmern ins Netz gehen. Bereits online stehen die ersten zehn – darunter auch George Church selbst: www.personalgenomes.org

VON WOLF SCHMIDT

Was für ein Kauz! Und der soll die Welt verändern? Wie wir uns selbst sehen? Der soll die großen Fragen der Menschheit beantworten?

Cambridge an der Ostküste der USA. Ein Hüne mit krausem Haar und Wolfgang-Thierse-Bart tapst zu einem Tisch in der Cafeteria. Wir sind zu einem Gespräch am „Galileo Galilei Way“ verabredet, direkt an der Bahnlinie, die die Universitäten MIT und Harvard verbindet. George Church lässt sich auf den Holzstuhl sacken und sagt mit brummiger Stimme: „Wundern Sie sich nicht, falls ich plötzlich einschlafen sollte.“

Nein, man wundert sich wirklich nicht. Denn dass George Church Narkolepsie hat – die Schlafsucht – kann jeder, der will, im Internet nachlesen. Dort steht auch, dass er 111 Kilo wiegt, Rechtshänder ist und die Blutgruppe 0+ hat. Daneben: Sein DNA-Code, einsehbar für jedermann. Weltweit.

George Church, 55, hat sich gläsern gemacht – und er hofft, dass es Tausende und Abertausende ihm gleichtun. Auf dass der Mensch versteht, wie der Mensch funktioniert. PGP heißt das Großprojekt, das Church an der Harvard Medical School gestartet hat. Das steht für „Personal Genome Project“. Es soll das gigantischste Genexperiment der Geschichte werden.

100.000 Freiwillige will Church gewinnen, 16.000 hat er schon beisammen. Er will ihr Genom sequenzieren und es wie seines ins Internet stellen – die Summe aller Gene, die komplette Erbinformation eines Menschen. Zusätzlich werden Angaben über Krankheiten, Allergien und Verletzungen gesammelt. Oder auch, wie viele Mahlzeiten die Teilnehmer zu sich nehmen und ob sie oft Gegrilltes essen. Aber auch ob sie die Zunge rollen können oder in der Nähe großer Stromleitungen wohnen.

Einzig ihr Name soll ungenannt bleiben. Aber wie schwierig wäre es, jemanden anhand der Angaben zu identifizieren? Beispiel George Church: USA, 111 Kilo, 1,93 Meter, grüne Augen, Schlafsucht, Veganer. Wie viele gibt es davon?

Mit seinem Projekt sucht Church Antworten auf die großen Fragen: Was lässt den einen zum Athleten werden und den anderen zum übergewichtigen Computergenie? Warum bleibt der eine gesund, obwohl er raucht und säuft, und der andere erkrankt, obwohl er Obst futtert und täglich joggt? Warum wird der eine steinalt und der andere stirbt jung?

George Church will die Menschen ermutigen, auf eine Reise ins eigene Ich zu gehen, tief hinein bis zu den kleinsten Bausteinen der DNA, jenen sechs Milliarden As, Cs, Gs und Ts, die das menschliche Genom ausmachen. Er will eine Generation für die Genforschung begeistern, wie die Jugend in den sechziger Jahren für die Raumfahrt begeistert wurde. Er selbst war ein kleiner Junge, als Kennedy ankündigte, einen Menschen auf den Mond schicken zu wollen. Mit 14 erlebte George Church, dass der Plan Wirklichkeit wurde. „Licht ins Dunkel des Genoms zu bringen, ist das große Projekt unserer Tage“, sagt Church heute. Damals ging die Reise ins Weltall, den outer space. Heute geht die Reise in den inner space, das Universum in uns.

Für die Teilnehmer ist es eine Reise mit ungewissem Ausgang. Denn auch wenn ihr Name nicht im Internet steht: Hundertprozentige Anonymität kann und will Church ihnen nicht garantieren. Damit sie aber wissen, worauf sie sich einlassen, müssen die Teilnehmer eine Prüfung in Genetik bestehen. Nur wer alle Fragen beantwortet, ist dabei.

Was für Church ein Traum ist, ist für andere ein Alptraum. Die genetische Durchleuchtung von Abertausenden? Was, wenn sich Versicherungen und Arbeitgeber diese sensiblen Informationen beschaffen? Oder Datenkraken wie Google und Facebook?

Der Einzelne als Erforscher seines eigenen Genoms? „Das kann nicht gutgehen“, sagt der deutsche Humangenetiker Wolfram Henn von der Universität des Saarlandes. „Da wird ein Risiko eingegangen, dessen Größe wir heute noch gar nicht abschätzen können.“

Denn wer sein komplettes Genom scannen lässt, wer einen Blick auf all seine rund 23.000 Gene wirft, der wird mit einiger Wahrscheinlichkeit Dinge herausfinden, die ihm nicht gefallen. „Die Wahrscheinlichkeit, beunruhigt zu werden, geht gegen 100 Prozent“, sagt Henn. „Es ist der ultimative Schritt der medizinischen Selbstentblößung.“

Doch klar ist auch: Die persönliche Genomik lässt sich nicht mehr aufhalten. Die Technik entwickelt sich rasant. Schon in fünf Jahren wird jeder sein Genom kennen können, schätzt etwa der Direktor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin. Andere Experten sagen: in zehn Jahren. Spätestens.

Die irre Zeit nach Clintons großer Pressekonferenz

Nächste Woche wird es zehn Jahre her sein, dass der damalige US-Präsident Bill Clinton im East Room des Weißen Hauses vor die Presse trat. Am 26. Juni 2000 war das. Der britische Premier Tony Blair war per Satellit zugeschaltet. „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben schuf“, sagte Clinton. Das menschliche Genom war entschlüsselt. Es war die Grundlage für das, was Church nun vorhat. Der erste Schritt. Der zweite könnte noch folgenreicher werden.

Als vor zehn Jahren der erste Schritt getan wurde, druckte die FAZ sechs Seiten voller As, Cs, Gs und Ts, die für die Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin stehen, die winzigen Bausteine der DNA. Doch selbst das war nur ein klitzekleiner Ausschnitt des Genoms. Würde man alle sechs Milliarden Buchstaben auf Papier ausdrucken, wäre der Stapel höher als der Kölner Dom.

Es folgte eine irre Zeit: die Hochphase des Glaubens an die Vorbestimmtheit eines jeden durch sein Erbgut, an die genetische Determiniertheit des Menschen. Damals dachte man, man müsse nur die richtige Stelle in der DNA finden und bekomme die Antwort auf alles. Nahezu wöchentlich wurden in den Medien neu entdeckte Gene abgefeiert: Angebliche „Langlebigkeits-Gene“, „Lust-Gene“, „Sucht-Gene“, „Schlauheits-Gene“, „Treue-Gene“, „Athleten-Gene“, „Neugier-Gene“, „Dicken-Gene“ oder „Aggressivitäts-Gene“.

Bald stellte sich heraus: Vieles war Humbug. Selbst wenn sich der Beitrag einzelner Gene zu Gesundheit und Krankheit, Begabung und Benachteiligung, Persönlichkeit und Psyche wissenschaftlich erhärten ließ, war dieser Beitrag meist nicht so groß wie gedacht. Für die Entstehung von Prostatakrebs haben britische Forscher nicht weniger als 581 Gene verantwortlich gemacht. Drei Dutzend potenzielle Asthma-Gene sind bekannt, keines führt allein zu der Krankheit. Ähnlich ernüchternd verlief die Suche nach dem entscheidenden Schlaganfall-Gen. Denn anders als klassische Erbkrankheiten wie Mukoviszidose entstehen die Volkskrankheiten durch ein komplexes Zusammenspiel von Genen, Umwelt und Lebensstil, von nature und nurture.

Anders gesagt: Die Sprache des Lebens, von der Clinton im Sommer 2000 sprach, war viel komplizierter zu entziffern als gedacht. Gott hatte vergessen, ein Wörterbuch mitzuliefern.

Pessimisten sagen heute: Wir haben den Einfluss der Gene maßlos überschätzt. Optimisten sagen: Wir müssen nur weiter suchen. Und auf den technischen Fortschritt vertrauen, der uns Maschinen beschert, die das Durchwühlen riesiger Datenmengen beschleunigen – und so die Sprache des Lebens endlich übersetzen.

George Church sammelt diese Daten. Er ist ein Superoptimist. Ein Mann, der von der Macht des menschlichen Geistes überzeugt ist – und dem Fortschritt, den er damit schaffen kann. „Die Zeit, als Götter Blitze vom Olymp schleuderten, ist vorbei“, sagt er beim Gespräch in der Cafeteria am „Galileo Galilei Way“. Church will die alles entscheidende Brücke schlagen zwischen Genotyp und Phänotyp, wie das in der Fachsprache heißt. Zwischen dem, was im Erbgut steht, und dem, was im Leben eines Menschen tatsächlich daraus wird. Zum Beispiel könnte es ja sein, dass eine spezielle Kombination mehrerer Gene Magenkrebs auslöst – aber nur, wenn man viel Gegrilltes isst. Um so etwas herauszufinden, braucht es die Daten von Tausenden und Tausenden. Es braucht so etwas wie das „Personal Genome Project“.

Church träumte von so einem Vorhaben schon als junger Forscher. Er fragte sich: Warum kann eigentlich nicht jeder Mensch sein Genom kennen lernen? Doch zunächst ging es darum, überhaupt ein Genom zu entziffern. Im Dezember 1984 besuchte Church eine Konferenz im Städtchen Alta im US-Bundesstaat Utah. Es sollte eigentlich um etwas anderes gehen, die Folgen von radioaktiver Strahlung auf das Erbgut; doch weil sie nicht so recht weiterkamen, heckten die Forscher beim Brainstorming im eingeschneiten Tagungsort Alta eine andere Idee aus: das Humangenom-Projekt – sechs Jahre später nahm ein internationales Konsortium die Arbeit auf.

Drei Milliarden US-Dollar kostete die Entschlüsselung des Genoms, die letzten Feinarbeiten waren erst im April 2003, knapp drei Jahre nach der Jubelpressekonferenz in Washington, abgeschlossen. Doch was dadurch vorlag, war nicht das Genom einer echten Person. Man hatte nämlich ein Mischmasch-Sample sequenziert, zusammengesetzt aus der DNA von sechs unterschiedlichen Menschen. Die ersten echten Menschen, deren Genom bekannt wurde, waren Craig Venter und der Entdecker der DNA-Struktur, James Watson. Weitere folgten: die erste Frau, Marjolein Kriek; der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu; und zuletzt !Gubi vom Stamme der Tuu in Namibia.

„Was hat man von so einer Diagnose? Man kann die Krankheit nicht verhindern und versaut sich den Rest seines Leben“

Der Arzt Wolfram Henn

Der nächste Schritt ist: dein Genom.

Zehn Jahre nach Clintons Pressekonferenz hat die Ära der persönlichen Genomik begonnen. Erste Firmen bieten Privatleuten an, aus ihrem Blut alle sechs Milliarden As, Cs, Ts und Gs herauszulesen. Im vergangenen Jahr kostete das noch mehrere zehntausend US-Dollar, aber die Kosten fallen und fallen. „Wir sind dicht dran am 1.000-Dollar-Genom“, prophezeit George Church. „Und danach wird der Preis wahrscheinlich weiter sinken.“ Seinen DNA-Code zu kennen, könnte so normal werden, wie den Blutdruck zu messen oder den Cholesterinwert zu bestimmen.

Die Begeisterung darüber teilen nicht alle – schon gar nicht in Europa. Und noch weniger in Deutschland. Hier herrscht eine tiefe Skepsis gegenüber allem, was mit Gentechnik zu tun hat. Und die Menschen sind sensibel, was den Umgang mit persönlichen Daten angeht.

Die Warnung vor Wissen, das wie Sprengstoff wirkt

Homburg, Saar. Haus 68 liegt am Waldrand, ein mit Efeu beranktes Gebäude in der südlichen Ecke des weitläufigen Uniklinik-Geländes. Hier hat Wolfram Henn, 49, seine Genetische Beratungsstelle. An der Tür prangt das Logo der Universität des Saarlandes: eine Eule.

Henn hat sein Büro im ersten Stock. Er sitzt an einem runden Tisch, an dem er sonst seine Patienten berät. Wolfram Henn ist Arzt, genauer: einer der renommiertesten Humangenetiker und Medizinethiker Deutschlands. Er spielt auch in Berlin eine Rolle. Er sitzt in der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, und als im Bundestag das neue Gendiagnostikgesetz beraten wurde, war er einer der Sachverständigen.

Henn ist kein Gegner des Fortschritts, im Gegenteil. Aber er will Gentests auf das Sinnvolle beschränken – und nicht auf das Machbare ausweiten. Die Menschen kommen zu ihm in die Beratung, weil sie echte Sorgen und Ängste haben. Sie wollen wissen, ob sie erblichen Brustkrebs haben. Oder ob sie an der Nervenkrankheit Chorea Huntington erkranken könnten. Sie kommen nicht einfach so zu ihm. Sondern weil sie Eltern oder Großeltern haben, Onkels oder Schwestern, die an diesen Krankheiten gestorben sind. Sie wollen wissen, wie groß ihr Risiko ist – und wie sie damit umgehen können. „Es geht um konkrete Fragen, auf die man dann eine konkrete Antwort finden kann“, sagt Henn.

Das Genom eines jeden Menschen auf Verdacht zu sequenzieren, hält Henn für einen gefährlichen Weg. Er ist keiner, der explodiert, wenn er sich aufregt. Aber seine Sätze sind scharf, auch ohne dass er laut werden muss: „Gentests ins Blaue hinein sind ein Sprengstoff. Für den Einzelnen, für Familien, für die Gesellschaft.“

Viele Menschen könnten mit einem solchen Wust an Informationen gar nichts anfangen. Vor allem sei die Wahrscheinlichkeit böser Überraschungen hoch. Denn wer alle 23.000 Gene scannt, findet bei fast jedem etwas potenziell Bedrohliches. Aus Gesunden werden Noch-Nicht-Kranke. Der Mensch wird zum Risikopatienten. Dead Man Walking.

Henn knallt ein Blatt Papier auf den Tisch. Es sind die Daten eines Patienten, der an einer Ataxie erkrankt ist, bei der in wenigen Jahren das Kleinhirn schrumpft. Was, wenn ein junger Mensch, der aus Neugier sein Genom sequenzieren lässt, so ein Schicksal prophezeit bekommt? Oder Mutationen gefunden werden, die mit 40 Jahren zu Demenz führen können? „Was hat man von so einer Diagnose?“, fragt er. „Man kann die Krankheit nicht verhindern und versaut sich den Rest seines Lebens.“

Es sind Extrembeispiele. Dennoch ist Henn froh, dass in Deutschland seit Februar ein Gesetz gilt, das Gentests enge Grenzen setzt. Er selbst hat als Sachverständiger dazu beigetragen. Dort ist festgelegt, dass vor Tests, die ein Risiko für eine Krankheit untersuchen, eine Beratung durch einen Arzt stattfindet. Dort steht auch, dass Arbeitgeber Ergebnisse von Gentests nichts angehen und Versicherungen nur in absoluten Ausnahmen.

Das silberne Kästchen mit dem eigenen Genom

Doch wie wollen deutsche Gesetze die Welt aufhalten? Wo doch ein paar Tropfen Blut reichen, die per Post verschickt in Laboren in Peking oder Haifa untersucht werden können? Wo es nicht mehr eine Frage von Jahren ist, bis die komplette DNA eines Menschen gescannt ist, sondern von Tagen – und irgendwann wohl nur noch von Minuten?

„Wir können diese Entwicklung nicht aufhalten“, sagt auch Henn. Man könne nur versuchen, sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Den Menschen vernünftige Beratung bieten. Sie vor falschen Verheißungen warnen. Es klingt ein bisschen hilflos.

Avenue Louis Pasteur 77. Hier steht das Forschungsgebäude der Harvard Medical School, ein Hochhaus mit Glasfront. Im zehnten Stock ist George Churchs Labor. Dort findet man drei kastenförmige Maschinen in Pink, Blau und Schwarz. Sie sehen aus wie kleine Geschirrspüler. „Polonator G.007“ steht darauf: Die neuesten Maschinen, die das Sequenzieren des Genoms beschleunigen und die Kosten weiter verringern. „Was früher Jahre gedauert hat, können wir nun in wenigen Tagen schaffen“, sagt Rich Terry, ein Mitarbeiter von Church. Er öffnet eine der Türen des Geräts, es surrt leise. Eine Kamera scannt eine Glasplatte. Es ist eine Probe des „Personal Genome Projects“.

Bald wird jeder, der es will, in solchen Maschinen sein Genom scannen lassen – und wer Geld hat, kann das heute schon.

„Licht in das Dunkel des Genoms zu bringen, ist das große Projekt unserer Tage“ DER FORSCHER GEORGE CHURCH

Nur wenige hundert Meter von Churchs Labor entfernt sitzt ein junger Europäer in einem Zimmer des „Harvard Club“. Neben ihm hat Jorge Conde Platz genommen, Chef der Firma „Knome“, die Church vor wenigen Jahren mitgegründet hat. Die Firma soll den Fortschritt zum Geschäft machen.

Conde hält ein silbernes Kästchen für den jungen Kunden in den Händen. Darin liegt ein USB-Stick, auf dem die DNA-Sequenz des Europäers gespeichert ist. „Gnothi Seauton“ hat das Unternehmen in die Innenseite des Kästchens drucken lassen – die Kunden sollen für ihr Geld auch etwas Show bekommen. „Gnothi Seauton“ war eine Inschrift am Apollontempel in Delphi. „Erkenne dich selbst.“

Steckt man den USB-Stick in den Laptop, kann man sich in einem Browser durch die 23 Chromosomenpaare wühlen. Man klickt und klickt und landet in den einzelnen Genen. Ein Datenberg. Ein Buchstabensalat. GCCCACTCCG.

Das größte Problem ist heute noch, diese Millionen an Informationen zu interpretieren. Was erhöht mein Krankheitsrisiko? Was bedeutet diese seltene Variante, was jene bisher unbekannte Mutation? „Wir stehen erst am Anfang“, räumen auch die „Knome“-Leute ein.

George Church glaubt, dass die Forscher bald Ordnung in das Chaos bringen werden. Unter anderem durch sein „Personal Genome Project“. Seine Vision der Zukunft sieht so aus: Vielleicht hat in einigen Jahren jeder sein Genom auf dem Handy gespeichert. Das könnte einem dann im Supermarkt oder in der Apotheke Hinweise geben. Denkbar wäre etwa, dass eine Frau mit einer Faktor-V-Genveränderung gewarnt wird, falls sie zur Antibabypille greift – beides zusammen erhöht das Thromboserisiko.

Es klingt wie Science Fiction. Es könnte Wirklichkeit werden.

Ob er sich nie Sorgen macht, dass all das aus dem Ruder laufen könnte? Dass genetische Daten missbraucht und Menschen diskriminiert werden könnten? „Die Vorteile überwiegen die Risiken“, sagt Church nüchtern.

Bisher sind nur die Daten von George Church und den neun ersten Teilnehmern des „Personal Genome Projects“ im Netz, darunter Promis wie der Psychologe Steven Pinker. In vier Jahren will Church die 100.000 Freiwilligen zusammenhaben. Dieses Jahr sollen die ersten Daten von 1.000 Teilnehmern online gehen. Sie werden ihre sensibelsten Informationen im Netz stehen haben. Ihre Gewohnheiten, ihre Gebrechen. Ihre Genome.

„Es ist ein Experiment“, sagt Church mit seiner Brummbärenstimme. „Ein technisches, medizinisches und soziales.“ Ein Großexperiment im Freilandversuch. Ausgang: ungewiss.

Wolf Schmidt, 31, ist taz-Redakteur für Sicherheitspolitik und Bürgerrechte