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Archiv-Artikel

Weihnachten mit Penelope und Adorno

RITEN Auf der Suche nach der neuen, ganz großen und säkularen Familientradition – gern auch mit Gans

Eines Morgens kam ich ins Ankleidezimmer und hatte den Kopf voll mit dem gelähmten Land, der sich abduckenden Gesellschaft und den großen Veränderungen, die wir jetzt endlich angehen müssen. Und da fand ich meine Schuhe nicht. Da steckte hundertprozentig die Macht dahinter.

„Macht“, rief ich, „wo sind meine Schuhe?“

„Sie stehen vor dir“, rief sie zurück.

Ich schaute nach unten. Da standen aber nur meine Winterschuhe. „Von selbst wechselt du sie ja nicht“, rief sie. In ein paar Tagen sei Weihnachten. Tschieses Kreist.

Trotzdem: War so ein radikaler Schritt tatsächlich schon nötig? Da musste ich sicher auch noch meine langen Unterhosen aus der Schublade holen. Die Wucht der Transformation ließ mich auf der Ikea-Schuhkiste zusammensinken. In diesem Moment kam Adorno herein, schaute mich aus seiner Kapuze heraus an und sagte freundlich: „Du hast deine besten Zeiten auch hinter dir, Pu.“

„Und du erst“, sagte ich schlagfertig.

„Nein, ich und Penelope haben sie noch vor uns.“

„Wie das?“

„Die besten Zeiten sind zwischen 16 und 30“, sagte Pelo, die ins Zimmer getreten war. Dann hatte ich sie echt hinter mir.

„Unsere besten Zeiten haben grade erst begonnen“, konterte die Macht, die jetzt auch noch reinkam. „Genau“, sagte ich. Sie schauten sich an.

„Willst du einen Kaugummi?“, fragte Adorno mitleidig. Ich nahm ihn. „Der hat seine besten Zeiten noch vor sich“, sagte ich.

Er war großartig. Aber nur zwei Minuten lang. Dann war es vorbei mit ihm.

„Seid bloß vorsichtig“, sagte ich, „man denkt, die besten Zeiten haben grade erst begonnen, und dann sind sie auch schon wieder vorbei.“

Und, sehen Sie: Die ignorierten das, aber mich selbst erwischte es frontal. Vielleicht weil ich wegen der Schuhsache eh schon seelisch angeschlagen war. Wie alt war dieser Sack jetzt?, dachte ich.

Dreizehn.

Demnach war Penelope fünfzehn.

Er duschte neuerdings freiwillig und kämmte sich ständig. Sie musste morgens immer früher aufstehen, weil sie sonst im Bad nicht fertig wurde.

In wenigen Tagen war Weihnachten. Und ich musste meine Einstellung zu Weihnachten radikal ändern. Aber bevor ich weitererzählen kann, müssen Sie erst wissen, wie die ganze Weihnachtsproblematik begann.

Es hätte ein wunderbarer Sonntag sein können. Trübe, grau, kalt. Wie gemacht für keinen Spaziergang. Penelope, Adorno und ich hingen gepflegt in unseren Zimmern an den Notebooks. Aber dann kam die Macht von ihrer Geschäftsreise und strahlte. Bis sie nach kurzer Überprüfung aller Zimmer feststellen musste, dass hier mal wieder keiner irgendetwas gemacht hatte. Eins kam zum anderen, und am Ende rief sie finster: „Und an Weihnachten bleiben wir hier. I’ve had it.“

„Wie jetzt?“

Ja, sie habe beschlossen, dass wir hier blieben. Basta.

Hä? Nichts gegen den Führungsstil, aber sie selbst hatte doch unsere wunderbare Regel außer Kraft gesetzt, nach der wir ein Jahr in Berlin blieben und ein Jahr zum Metzgermeister fuhren. Wir seien so selten dort. Da könne man doch, da müsse man geradezu. Töchterliche Schuldgefühle.

Wir schlafen dann in ihrem Kinderzimmer mit Hanni und Nanni. Das Haus, in dem ich aufwuchs, steht im Hauptort, aber das haben alle von uns verlassen. Ich fuhr also an Weihnachten in ihre Heimat. Ich war Gast, sie wieder Kind.

Aber diesmal offenbar nicht.

Typisch. Wo ich mich gerade dran gewöhnt hatte. Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, dachte ich. Hielt aber ansonsten schön meinen Mund, denn es waren ja noch ein paar Tage bis Weihnachten, und es war klar, dass die Metzgermeisterin das nicht so einfach hinnehmen konnte und mit subtilem Verweis auf das fortgeschrittene Alter des Metzgers die Notwendigkeit eines gemeinsamen Fests herausarbeiten würde. Der Metzger ist zwar faktisch erst Ende 60, aber im Weihnachtsbusiness wird mit Emotionen gearbeitet, also weiß man nie.

Aber dann verdichteten sich die Anzeichen, dass wir tatsächlich bleiben würden. Penelope kam völlig überraschend freiwillig aus ihrem Zimmer in meins und sagte: „Du, Pu?“

„Hä?“

Ob ich an Weihnachten auch am Computer sitzen würde.

„Wer hat dich geschickt und was willst du?“, fragte ich. Aber sie wird nicht geschickt, sie ist das seismografische Zentrum unserer Familie. Und Adorno ist das vulkanische Magma. So hat jeder seine Aufgabe.

Unser Weihnachten zu Hause solle diesmal auch schön werden, schnurrte Penelope. „Das wird wunderschön“, brummte ich.

Ja, aber nicht wenn jeder am Computer säße.

Aaaah. Weiber.

Als wir das letzte Mal in Berlin blieben, sei jemand immer am Computer gesessen. Ein traumatisches Erlebnis für andere Familienmitglieder. Wenn das wieder so sei, werde die Macht sauer und traurig, und wer kriege das ab?

„Ich“, sagte ich. – „Von wegen“, antwortete Penelope.

Sie wünsche sich, dass nicht jeder das mache, was er immer mache. Beim Metzger gebe es einen festen Ablaufplan mit Weihnachtsevents, und das bräuchten wir auch. Stimmt: Erst wird der Baum geschmückt, dann muss man sagen, dass das aber „a scheener Baum isch“. Dann kommen ein paar Leute vorbei und sagen alle, dass das a scheener Baum isch. Dieses Ritual heißt Christbaumloben. Für jedes Mal Christbaumloben muss der Metzger einen Schnaps bringen, damit ist man auch gut beschäftigt. Dann kommt die Vorabendmesse. Danach wieder Christbaumloben. Irgendwann muss ich ausnüchtern und die Macht mit den Kindern einen Spaziergang machen, um zu schauen, ob das Chrischtkind kommt.

Kaum sind sie raus, stülpt sich der Metzger ein weißes Laken über den Kopf, rennt schnell raus und noch schneller wieder rein. Dann kommen die anderen zurück, und der Metzger fragt die Kinder atemlos: „Ond? Henn ihr’s Chrischtkind gsäha?“ Penelope sagt dann routiniert: „Ja, unglaublich, es rannte durch den Garten in das Maisfeld“.

Adorno flüstert: „Es hatte den gleichen Hüftschaden wie Opa.“

Dann spielt die Macht auf der Orgel drei Weihnachtslieder, die Großeltern singen – und ich denke an den Urknall, durch den das Universum entstand. Dann werden die Geschenke aufgerissen. Um 23 Uhr Schinkenbrote. Am nächsten Tag dann Frühstück um 9.30 Uhr und zum Mittag die Weihnachtsgans.

„Pelo, wir sind eine Familie der säkularen Vernunft“, sagte ich. „Außerdem bist du uralt. Du wirst doch nicht erwarten, dass ich mich als Chrischtkind verkleide.“

Nein. Aber wir bräuchten Rituale. Die Kardashians hätten auch welche. „Dann lass uns das schönste Ritual übernehmen: die Weihnachtsgans.“

Plötzlich stand die Macht neben uns. „Es gibt keine Gans.“

„Keine Gans?“

„Ich werde am 1. Weihnachtsfeiertag meinem Schlafanzug nicht vor 12 Uhr ausziehen“.

„Machst du die Gans im Schlafanzug?“

„Es gibt keine Gans, du Irrer.“ – „Fahren wir zum Metzger“, sagte ich. „Zu Weihnachten gehört eine Gans.“

„Für mich gehört keine Gans zu Weihnachten“, sagte die Macht. „Und zwar zwingend.“

„Für mich auch“, schnatterte Penelope.

„Was fällst du mir jetzt in den Rücken?“

„Wir finden Fleisch eklig und Gans erst recht.“

„Wir?“

„Ich, der komische Adorno und die Macht sowieso. Wir wollen ein Weihnachtsessen, das alle mögen.“

Die Macht und ich saßen später allein auf dem Sofa. Das war innerhalb dieses Jahres vom Ausnahme- zum Normalfall geworden. Die kamen maximal noch sonntags zum Tatort.

„Sag mal, Macht“, sagte ich.

„Was ’n?“

„Lohnt sich das überhaupt noch, hier große Weihnachtsaction zu machen? Penelope und Adorno sind doch eh bald aus dem Haus.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte sie.

„Ja, das wird großartig“, sagte ich.

Denn, ehrlich, die nerven total. Adorno spricht immer restringierter, wie ich mit Besorgnis feststellen muss. „Isch schlag disch Krankenhaus“ und so weiter. Auf seinem Bildschirm leuchtet dauernd das Wort „Fickanfrage“ auf. Immerhin ist er zu Hause. Penelope dagegen: Sich mir ihr zu verabreden ist zu einem Riesenact geworden. Ja, das werde leider nichts heute Abend, sie übernachte bei Luise. Und morgen früh, ja, das werde auch nichts, mittags leider auch nicht. Und das Wochenende sei sie komplett busy. Wenn sie mal da ist, schläft sie die ganze Zeit. Dann reist sie auch noch in der Gegend herum und hält irgendwelche Vorträge.

„Gehen wir morgen Abend vielleicht mal wieder zum Griechen, Penelope?“ Sie müsse nach Zürich und komme erst mit der Spätmaschine zurück. Einmal saßen die Macht und ich vor dem Fernseher und zappten durch das Programm, und da sahen wir sie in einer Talkshow. Was für eine Angeberin!

Aber wie Menschen so sind. Da saß ich auf unserer Schuhkiste im Ankleidezimmer. Und eine eiskalte Hand griff an mein Herz. Ich dachte plötzlich: Wie viele Jahre blieben dieser Familie denn noch – vier, maximal fünf? Hatten sie nicht grade erst Holzeisenbahnen ausgepackt und Bobo-Siebenschläfer-Büchlein? Was würden wir denn ohne die an Weihnachten machen, wir hatten doch nichts. Nada. Keine eigene Tradition. Nur die überholte unseres Heimatdorfs. Aber ohne Kinder konnten wir nicht mal mehr zum Metzger. Denn um uns ging es da ja nicht.

„Du, Macht“, hauchte ich.

„Ja“, hauchte sie zurück.

„Wenn wir dann allein Weihnachten feiern.“

„Ja?“

„Machst du dann eine Gans?“

Sie wedelte mich weg wie eine Fliege.

Und da war klar: Ich musste in allerkürzester Zeit eine große säkulare Weihnachtstradition begründen, auf deren Grundlage Penelope und Adorno noch viele Jahre nach Hause kommen würden. Und die Macht durfte es nicht mitkriegen. Also: Wir würden gemeinsam einen schönen Baum am Spreewaldplatz holen. Am Heiligen Abend würden wir von nun an, tja was, wichteln? Am ersten Weihnachtsfeiertag würde es traditionell keine Gans geben. Und weiter? Ich schlug ein großes Weihnachtsessen am 26. vor. „Wer soll denn da jetzt noch kommen?“, fragte die Macht skeptisch.

„Wir könnten Minki, Carolin und Leo einladen“.

„Minki ist doch an Weihnachten in Malibu.“

Die Sau. Richtig. Da gab er seit Monaten mit an.

„Carolin hat ein Shooting in L.A.“ Gott, oh Gott.

„Christine?“

Leos Mutter. Minkis gleichaltrige geschiedene erste Frau. Wir riefen sie an. Als Exmarxistin lehne sie Weihnachten grundsätzlich ab. Das ganze Konsumterrorpaket. Ach, immer noch? Außerdem musste sie nach Ravensburg zu ihrer Mutter ins Pflegeheim.

„Frieda-Christa vielleicht?“

„Spinnst du?“

Frieda-Christa ist eine hochrangige Funktionärin des besonders problematischen Parteiflügels. Aber sonst nett. Na ja, ehrlich gesagt ist das die offizielle Sprachregelung.

„Dann laden wir halt den Superöko ein“, sagte ich resigniert. Aber das ging auch nicht. Der Superöko hatte sich bereits selbst bei uns eingeladen. Für Silvester. Prima, dachte ich, denn das war ja eine echte Familientradition. Das Selbsteinladen hatte er schon praktiziert, als wir beide noch im selben Kinderzimmer wohnten.Vielleicht könnten wir ja säkulare Rituale und Gebräuche unserer schwäbischen Heimat integrieren und dadurch Berlin multikultureller machen. Christbaum loben, etwa.

„Ich habe keine schwäbische Heimat“, knurrte Adorno.

„Ha, Kerle, komm.“

„Ihr seid die Dorfdeppen, ich nicht“, sagte er.

Diese Annahme ist erfrischend selbstbewusst und geografisch wohl auch zutreffend, wird von seinen intellektuellen Leistungen allerdings nicht gedeckt. Er kann ja nicht mal dem einfachsten Gedanken folgen.

Bitte, als ich sagte: „Es kann keinen Gott geben, denn wäre er im Universum, so könnte er das Universum nicht erschaffen haben. Außerhalb des Universum kann er aber auch nicht sein, denn das Universum ist unendlich.“

Da antwortete Adorno: „Hä?“ Penelope dagegen fragte: „Was ist, wenn es ein anderes, größeres Universum gibt, in dem unser Universum drin ist?“

Woher sollte ein Dorfdepp wie ich das wissen? Hm, dachte ich, vielleicht musste die Macht mit den Typen sicherheitshalber doch zur Weihnachtsmesse gehen.

Am vierten Adventssonntag rief ich die Familie an den Tisch, um den letzten Planungsstand zu evaluieren. Als alle saßen, sagte Adorno zu Penelope: „Sag mal ganz schnell: Der Barmixer mixt Whiskey an der Mixer-Bar.“

„Hä?“

„Sag es!“

„Der Barwixer wixt Mhiskey an der Wixerbar.“

Adorno: „Hihihihihi“.

Das musste Glück sein.

Dann zu mir: „Jetzt du.“

Ich: „Ich?“

„Ja, du. Sag ganz schnell …“

Ich sagte: „Mein lieber Adorno, du möchtest mich mittels dieses Zungenbrechers zum Durcheinanderbringen der Konsonanten W und M bringen, sodass ich unbeabsichtigt Worte ausspreche, die du als unangemessen empfindest. Das mag bei deiner geistigen Verfasstheit Lustgefühle auslösen, aber ich bitte um Verständnis, dass ich dazu nichts beizutragen gewillt bin.“

Adorno, irritiert: „Hä?“

Ich, superlässig: „Sigmund Freud. Der Witz und seine Beziehung zum Unterbewussten. Solltest du längst gelesen haben.“

Er sprang auf, gab mir seinen besten Adorno-Blick und zischte: „Du hast deine besten Zeiten echt hinter dir.“

Zack! Weg war er.

Penelope rief schon vom Flur aus: „Nur damit das klar ist, Silvester feiert ihr mal schön ohne mich.“

Zack! Weg war sie.

„Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Weihnachtstradition“, sagte ich zur Macht. Sie sah mich an, als wäre in meinen Winterstiefeln durch die Wohnung gegangen.

Peter Unfried, 50, feiert mit Macht, Penelope, Adorno und dem Weihnachtssong von Erdmöbel („Ding Ding Dong“)