: Wir sind nicht Beckenbauer
Erst waren wir wieder wer. Dann wurden wir Papst. Nun sollen wir Beckenbauer werden. Nein danke
VON PETER UNFRIED
Er erscheint auf einer Leinwand, von dem er auf das Volk herablächelt. Oder er schwebt aus dem Himmel auf die Erde herunter und läuft in ein Stadion. Überall nehmen die Menschen ihre Hände und klatschen sie gegeneinander, was das Zeug hält. Und dann nehmen sie ihre Füße und trampeln, bis es scheppert.
Abgesehen von bisher wenigen Dissidenten: Wann immer die Deutschen in diesen WM-Tagen Franz Beckenbauer zu sehen kriegen, herrscht große Freude. Und falls nicht, sorgt ein serviler Einpeitscher wie Kerner (ZDF) dafür, dass Freude herrscht.
Beckenbauer, 60, Organisator der WM 2006, ist ganz oben. Er war immer oben. Aber nun ist er noch weiter oben. Er ist nicht Bundeskanzlerin, er ist nicht UN-Generalsekretär, sondern viel mehr. Er ist Beckenbauer.
Medien reden vom „großen Beckenbauer“ inzwischen ohne Anführungszeichen und ohne Ironie. Dass er in einem Hubschrauber mitfliegen kann, gilt praktisch als Weltwunder. Es ist wie in dem Witz: Egal mit wem er auf der Tribüne sitzt, die Menschen weltweit fragen sich höchstens: Wer ist das da neben Franz? Ist es das Prinzip der Berlusconisierung: Bombardier die Öffentlichkeit mit Präsenz in dich propagierenden Medien (Bild, ZDF), und irgendwann kniet sie vor dir?
Ein bisserl scheint es, als feierten die Leute auch hier – wie generell bei der WM – sich selbst. Beklatschen, was oder wie sie gern auch wären. Neue Weihnachtsfeiern, neue Frauen, neue Familien, immer währendes Glück. Ja, gut, ich war sicher kein perfekter Vater, aber wer ist das schon, und welche Spiele ich morgen sehe, weiß hoffentlich mein Hubschrauberpilot. Ecce: Ein Mensch, der fliegen kann, aber nicht abgehoben wirkt. Das hat eine übermenschlich-menschliche Dimension.
„Franzsein ist wie Deutschsein“, behauptete FJ Wagner in Bild. Wenn das so ist, besteht Deutschsein in einem liberalen, globalisierten, tendenziell tolerant-menschenfreundlichen, postchristlichen, leicht zum Jähzorn neigenden Kleinbürgertum.
Es gibt Schlimmeres, klar, aber Kritiker haben alle, nur er nicht. Jetzt schon gar nicht, da würde man als Querulant gegrillt. Aber auch in Friedenszeiten traut sich kein Politiker an ihn ran, und grade kein Linker – Daniel Cohn-Bendit und seine „Allianz gegen Franz“ ausgenommen.
Erstens ist Beckenbauer mit Mighty Bild symbiotisch verschlungen. Zweitens: Wer sich über das Kleinbürgertum lustig macht, der treibt es anderen zu. Drittens: Die Wagner-Definition ist nicht nur knalldoof, sondern auch perfide, weil sie im Umkehrschluss bedeutet: Wer sich gegen Franz wendet, wendet sich gegen Deutschland. (Übrigens, Franz Josef: Das war Hitlers Trick.)
Die (Auto-)Suggestion in der Traumwelt WM besteht auch darin, dass die in der sozialen Realität immer weiter auseinander driftenden Individuen durch die WM und den Fußball (wieder) gleicher würden.
Welche Funktion erfüllt da Beckenbauer? Hm: Er kam aus dem Volk, genauer gesagt aus einer Giesinger Postlerdynastie. Heute ist er ein in Österreich lebender und Steuern zahlender Interessenvertreter der großen (Medien-, Kommunikations- und Sportartikel-)Konzerne. Einst behauptete er, uns die Grundgebühr ersparen zu können; die Praxisgebühr(-Erhöhung) erspart er uns sicher nicht.
Aber es geht weniger darum, dass er ein Band zwischen Volk und Kapital darstellt, und zwar eines, das die Groschen des Ersteren in die Taschen des Zweiteren befördern hilft. Es geht um die Frage seiner symbolische Funktion im vereinigten Deutschland.
Was ist von den Träumen einer „Berliner Republik“ und ihrer kreativen Kraft zur Wiederbelebung der Gesellschaft geblieben? Beckenbauer.
Was von der inneren Einheit? Beckenbauer. Was wurde aus den Eliten, die aus ihren Bunkern rauskommen sollten, um im Namen des gesamtdeutschen, gesellschaftlichen Ganzen …? Wir haben ja Beckenbauer.
Er hat nicht den „Faust“ geschrieben, er hat 103 Länderspiele gemacht und zwei Weltmeisterschaften gewonnen. Erst waren wir nur wieder wer. Dann wurden wir Papst. Nun sind wir sogar Beckenbauer?
Bei allem Respekt vor Franz Beckenbauers Lebensleistung als Fußballer, Trainer und Funktionär sowie der Kraft, die entsteht, wenn die Unterhaltungsbereiche Fernsehen und Fußball synergetisch wirken: Gibt es außer mir niemanden in Deutschland, dem Beckenbauersein zu wenig ist?