: Auf blauen Kacheln sitzen und rauchen
KURZFILME & KUNST Es gibt eine Welt jenseits des Fußballs! Auch wenn man dafür den Arsch hochkriegen und in den Wedding muss. Eine Promenade über das studentische Media Arts Festival „Emergeandsee“ im Stattbad Wedding
VON DETLEF KUHLBRODT
Irgendwie war ich deprimiert. Wozu Fußball? Was sollte das? Tag für Tag stand oder saß man wie ferngesteuert vor Fernsehern und riesigen Leinwänden, rauchte und trank zu viel und war doch nicht zufrieden. Es war Samstag. Ich war verkatert. Die Japaner spielten super. Ihr Torwart, Doktor Kawashima, hätte besser beim Gehirnjogging bleiben sollen.
Die Kommentare von ARD-Fußballexperte Mehmet Scholl waren respektlos und hochmütig. Ich beschimpfte ihn seitenlang. Dann fiel mir ein, dass ich noch in den Wedding musste, zum „Emergeandsee“-Festival, das an diesem Wochenende zum zehnten Mal stattfand. Hybrid war das Zauberwort. Es ging um vermischte Identitäten, Kurzfilme, Kunst und junge Leute.
Befreiung von der WM
Gefühlte Jahre hatte ich meinen Modekiez nicht mehr verlassen. Als ich am U-Bahnhof Reinickendorfer Straße ausstieg und die Müllerstraße hochging, fühlte ich mich wie befreit. Die letzten Wochen war ich wohl eingesperrt gewesen. Hier ging ich eine Viertelstunde, ohne einem einzigen Fernseher zu begegnen. Angenehme Motorengeräusche realistischer Autos begleiteten meine Gedanken.
Der Fußball-WM scheint man im Wedding gelassen zu begegnen. Nicht dass man sie ignorierte, man nimmt sie nur nicht so furchtbar wichtig. Fröhlich winkte ich dem SPD-Haus in der Müllerstraße zu. Schade, dass Helmut Schmidt keine Freundfunktion hat! Eine Straße heißt „Ruheplatzstraße“. Ein kleiner Junge spielte mit einem kleinen Mädchen Fußball, ihr Tor war ein Hauseingang. Manchmal werden sie in vielen Jahren an diesen Moment glücklicher Kindheit zurückdenken.
Auf einem schönen runden Platz in der Gerichtstraße saßen Menschen unter Bäumen. Die Luft war gut. An die Wand des „Stattbads“ hatte jemand geschrieben „I don’t wanna be u’re friend in Facebook“. Hihi!
Das mehrheitlich von Studenten der Europäischen Medienwissenschaft an der Universität Potsdam organisierte internationale „Emergeandsee“-Festival hatte am Freitag begonnen und verschiedene „lectures“ mit modischen Titeln angeboten. Zum Beispiel: „Avatars of mixed culture – On the representation of hybrid identities in film“. Eigentlich war alles proppenvoll. In einer ehemaligen Toilette gab es Audioinstallationen. Man hörte Menschen auf Chinesisch miteinander sprechen. Bei der schön gebastelten Lichtmaschinenschlangeninstallation von Jonas Alsleben, Carl-Hohn Hoffmann und Sebastian Kubersky, die in einer ehemaligen Umkleidekabine herumpulsierte, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich sie nun technohippiekitschig oder doch toll finden würde.
Setz dich zu meinen Eltern
Wie bei der documenta gab es noch viele andere interessante Dinge, die aufzuzählen ermüden und zu weit führen würde. Das Herzstück des Festivals waren die 21 Kurzfilme, die in einem Becken des „Stattbads“ gezeigt wurden. Lässig saß man auf großen Kissen, Liege- und Pappstühlen oder den schönen blauen Schwimmbadkacheln. Jemand sagte: „Meine Eltern sind dahinten im Liegestuhl. Kannst dich ja dazusetzen.“
Die FilmemacherInnen, die sich in den Eingangssequenzen ihrer Werke vorstellten, sahen wach und sympathisch aus. Manche Filme waren kaum eine Minute lang, andere 20 Minuten. Einige waren toll, andere nicht so gut; wie im Fernsehen, nur eigentlich doch besser. Es gab Animations-, Spiel- und Dokumentarfilme. „I am Simon“, der wunderschöne, atmosphärisch dichte Animationsfilm von Tünde Molnár aus Ungarn, ließ einen Hund von seinem Leben und Sterben erzählen. Matis Burkhardts zwanzigminütiger, lustiger Film „Leerfahrt“ handelt von einem jungen Mann, der Peter-Lorre-begeistert ist und in 114 verschiedenen Verkleidungen Fahrscheine in der U-Bahn kontrolliert. Ezgi Kilincaslans Tagebuchfilm „Berlin“ berichtet in aufrichtigen sechs Minuten von den Erfahrungen einer türkischen Künstlerin in Berlin.
In „Voodoo-Instructions“ von Martyna Staroste malträtiert irgendwie schon zu gekonnt lustig und abgeklärt die Heldin die Puppen der Insassen des Subway-Sandwich-Restaurants am Schlesischen Tor. Der im urbanen Raum intervenierende Künstlerheld des tschechischen Films „UFF“ von Vladimir Turner setzt seltsame Zeichen in Prag, die sich auf der Landkarte zu einem „UFF“ verbinden. Estela Estupinyà Garcias „Utopia“ beeindruckt als Stummfilm mit Textschnipseln.
Die richtig schöne kroatische Dokumentation „Non-Recyclable“ berichtet von Flaschensammlern aus Zagreb und von einem Denkmal, das ihnen auf einem Platz in der Stadt von Künstlern errichtet wird. Wir rauchten am Rande. Alles war sehr interessant.
Die Besucher von „Emergeandsee“ wurden sehr gebeten, ihren Lieblingsfilm auf einem Zettel anzukreuzen, und nun steht der Name des Gewinnerfilms doch nicht im Internet. War wohl doch nicht so wichtig! Konzentrationstechnisch ist es übrigens schwieriger, drei Stunden Kurzfilme zu gucken als drei Stunden Fußball.