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Archiv-Artikel

Berlin ist für ein paar Tage mal Gütersloh

EINWOHNERTAUSCH

Berlin hat die Schnauze voll davon, immer nur Berlin zu sein

Die Straßen sind ein bisschen leerer am 24. Dezember morgens. Oder sie sind anders bevölkert als zuvor. Als habe ein Einwohnertausch stattgefunden.

Eine Reiseplattform schätzt die Zahl der Menschen, die Berlin über Weihnachten verlassen, auf eine Million; die meisten fahren demnach in die Heimat. Die Zahl scheint etwas hoch gegriffen. Und selbst wenn, kehren ja vielleicht auch eine Menge Menschen, die einst an der Spree gewohnt haben – lassen wir es eine Viertelmillion sein –, wieder heim. Man stelle sich vor, wie 13,3 volle Ladungen Olympiastadion die Stadt verlassen. Und wie gleichzeitig 3,3 volle Ladungen Olympiastadion zurückkehren. Eine einfache Rechnung.

Berlin wird nicht nur leerer, Berlin wird auch langsamer in diesen Tagen. Die Stadt schaltet einen Gang zurück, hat einen anderen Beat. Man hat das Gefühl, sie tauscht sich selbst ein paar Tage aus. Hat auch mal die Schnauze voll davon, immer nur Berlin zu sein. Ist für ein paar Tage mal Gütersloh.

Auch man selbst schaltet runter, vergisst die Geschäftigkeit. Heiligabend lese ich „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ von Paul Auster – die einzige Weihnachtsgeschichte, die ich gern lese.

Am späten Nachmittag fahre ich nach Schöneberg. Der Park am Gleisdreieck ist dämmernde, leer gefegte Kulisse. Hinter der S-Bahn-Trasse lugen die Gebäude rund um das Sony Center versöhnlich hervor. Vom Park aus wirken sie nicht so deplatziert wie sonst. Niemand unterwegs, warmer Wind zieht durch. Und selbst die Kurfürstenstraße und die Potsdamer sind einigermaßen ruhig heute. Laub fliegt auf.

Den Abend verbringe ich dann in Schöneberg in einer sehr gemischten Runde bei einem Freund. Tag der offenen Tür; wer kommt, der kommt. Zehn Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds, zwischen 30 und 90 Jahren, sind da. Aus München, dem Taunus, Bremen, Bottrop – die meisten inzwischen in Berlin lebend.

Wir trinken Jever, Weißwein, später Primitivo. Wir reden über so verschiedene Dinge wie Lachse, die in sauberen Gewässern schwimmen, den morbiden Charme der Potsdamer Straße und die Arbeit in Jobcentern. Darüber, was 2014 bringen wird. Zwischendurch herrscht auch mal Ruhe; alle schauen gemächlich vor sich hin. Ein Schweigen, das nicht unangenehm, sondern natürlich wirkt.

In ein paar Tagen ist diese Stadt wieder eine andere. Ein paar volle Olympiastadien fahren wieder davon, ein paar mehr kommen zurück. Aus Gütersloh und anderswo. JENS UTHOFF