: Wunder gibt es immer wieder
SOZIALARBEIT Im Vorfeld der Männer-WM in Brasilien bekommt im Gastgeberland auch der Frauenfußball einen Schub – vor allem als Aufhänger für Sozialprojekte in den Armenvierteln
AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN
Wunder sind im Fußball keine Seltenheit. Zumeist finden sie auf den Spielfeld statt, manchen Spielern wird das Wundersame als Wesensmerkmal zugeschrieben. Weit verbreitet ist auch der Glaube, dass Fußball in anderen Bereichen Berge versetzten kann, zum Beispiel im Sozialen, dort, wo die Gesellschaft nicht so funktioniert, wie sie sich erträumt wird. Es entstehen Fußballprojekte, die insbesondere Kindern und Jugendlichen helfen soll, einen rechtschaffenen Weg einzuschlagen. Und wie oft im Fußball werden solche Ideen erst im maskulinen Bereich erprobt und erreichen erst später Mädchen und Frauen.
„Wir wollen den Kindern in der Favela zeigen, dass es im Leben mehr gibt, als sich dem Verbrechen anzuschließen“, sagt Roxanne Hehakaija. Die 29-jährige Holländerin war einst Profifußballerin, jetzt hat sie ihr Faible für Streetfootball entdeckt. Brasilien hat sie schon immer fasziniert. Die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr sieht Hehakaija als große Chance. „Fußball kann den Mädchen helfen, gemeinsam eine Sache anzupacken, besser untereinander zu kommunizieren und Verantwortungsgefühl zu entwickeln“, sagt Hehakaija. Dazu brauche es nur ein wenig Geld und die richtige Struktur.
Favela Street Girls heißt eines der zahlreichen Projekte, die Mädchen in den Armenvierteln von Rio de Janeiro mit Fußballbegeisterung von der Straßen locken soll. Die Projektleiterin aus Holland hofft, schon in 2014 mit rund hundert Mädchen zusammen zu arbeiten. Von den älteren sollen einige gleich zu Beginn zu Tutorinnen ausgebildet werden. „Wer über 16 Jahre alt ist, kann selbst die anderen in ihrer Gemeinde anleiten. Jede Gruppe wird dann aus 20 bis 25 Mädchen bestehen“, plant Hehakaija.
In drei Favelas der zweitgrößten Stadt Brasiliens soll das Projekt stattfinden, vorerst. Bangu, Vila Cruzeiro und Favela do Lixão heißen die Stadtviertel. Es ist die Peripherie der Touristenmetropole. Riesige Ansiedlungen ärmlicher Behausungen, kaum Transportmittel und Freizeitangebote. Oft dominiert der Drogenhandel das öffentliche Leben, für viele Kids eine erste, mitunter tödlich endende Beschäftigungsmöglichkeit.
Favela Street Girls orientiert sich an einem männlichen Vorbild. Favela Street, 2010 ebenfalls von einem Holländer gegründet, ist in derselben Gegend tätig. 750 Jugendlichen bietet der Fußball seitdem eine Alternative zum Drogengeschäft. Für die Jugendlichen eine willkommene Abwechselung. Doch das in Brasilien beliebteste Wunder, nämlich wie Pelé oder Neymar mit geschickten Füßen zu Weltruhm zu gelangen, ist selten.
Aber das Versprechen des sozialen Aufstiegs darf in keinem Fußballsozialprojekt fehlen. „Natürlich ist die Talentsuche einer unserer Schwerpunkte“, sagt Exprofi Hehakaija. Wer beim Kicken auf der Straße oder holprigen Erdplätzen auffällt, wird gefördert und womöglich an lokale Vereine vermittelt. „Das Schönste wäre, eine neue Marta zu entdecken. Sie war für mich ein großes Vorbild“, sagt Hehakaija.
Die Stürmerin Marta Vieira da Silva die bekannteste Fußballerin der Welt. Zu einem Weltmeistertitel oder Olympiasieg hat es zwar nicht gereicht, aber fünf Mal wurde die Brasilianerin zur weltbesten Spielerin gewählt, zuletzt 2011. Inzwischen spielt Marta in Schweden, wo sie 2012 mit dem Stockholmer Tyresö FF den Meistertitel gewann.
Bei Favela Street Girls geht der Traum vom großen Aufstieg direkt in Richtung Ajax Amsterdam. Der Traditionsklub sponsert das Projekt, gemeinsam mit Sportunternehmen wie Adidas. Kein großer Player der kommerziellen Kickerwelt kommt heute darum herum, sich mit sozialem Engagement, gerade auch in der Wachstumsbranche Frauenfußball, zu schmücken. Doch Hehakaija ist realistisch: „Zwar stehen wir im Kontakt mit der Frauenmannschaft von Ajax. Doch das ist Zukunftsmusik.“ Das Projekt sei noch weit davon entfernt, Talente für den internationalen Transfermarkt zu sichten.
Kickende Frauen gibt es noch nicht lange in Brasilien. Während in England der Frauenfußball sich bereits im Ersten Weltkrieg großer Beliebtheit erfreute, dauerte es in Südamerikas größter Fußballnation bis ins Jahr 1958, dass zum ersten Mal überhaupt zwei Frauen-Teams offiziell gegeneinander antraten. Damals plagten Geldprobleme die Schule in Araguari, einem kleinen Städtchen tief im Innern des Bundesstaates Minas Gerais. In der Not entstand die Idee, mit Erlösen aus einem Frauen-Match das kommende Schuljahr zu finanzieren. Heimlich wurden 22 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren ausgesucht und vom Fußballverein Araguari trainiert. Da der lokale Rivale Fluminense nicht mitmachte, losten die Mädchen untereinander aus, wer am großen Tag für Araguari und wer für Fluminense auflief.
Das Spektakel war ein voller Erfolg. Der Medienrummel reichte bis in andere Bundesstaaten, die Mädchen aus Araguari wurden zu Gastspielen eingeladen. „Überall wurden wir um Autogramme gebeten“, erinnert sich Darci de Deus Leandro, heute 70 Jahre alt. „Das ganze Spiel über schickten uns die Männer Handküsse, wir wurden umjubelt und umgarnt. Aber immer sehr respektvoll.“
Doch bald wurde die katholische Kirche auf die Frauen im Fußballdress aufmerksam. Es gelang den Moralhütern, die Spiele verbieten zu lassen. Als 1959 die erste Einladung zu einem Auslandsspiel in Mexiko kam, schritt auch der damals mächtige Nationale Sportrat (CND) ein. Mit Verweis auf ein altes Dekret, das „Sportarten, die mit der Natur von Frauen unvereinbar“ waren, untersagte, wurde Frauenfußball in Brasilien verboten – bis in die Siebzigerjahre hinein.
Bis heute ist die Geschichte des brasilianischen Frauenfußballs nicht annähernd so glorreich wie die Karriere von Marta Vieira, die als 14-Jährige von Zuhause fliehen musste, um fernab der Familie in Rio de Janeiro ihre Karriere aufzubauen. Vor allem mangelt es an Ausbildung und finanzieller Unterstützung, erst seit den Neunzigerjahren ist der Frauenfußball einigermaßen anerkannt. Der Wissenschaftler Osmar Moreira de Souza Júnior kommt in seiner kürzlich veröffentlichten Doktorarbeit zum dem Schluss, dass kein einziger Verein im fünftgrößten Land der Welt die gesetzlichen Vorschriften des Profifußballs im Frauenbereich umsetzt. „Die Athletinnen werden zwar den im sogenannten Pelé-Gesetz vorgesehenen arbeitsrechtlichen Pflichten unterworfen. Doch die im nationalen Fußballrecht festgeschriebenen Gegenleistungen wie vertragsmäßige Bezahlung und angemessene Arbeitsbedingungen werden verweigert“, schreibt Moreira de Souza.
So kommen wundersame Frauenfußballgeschichten heute meist aus den inzwischen unzähligen Sport-Sozialprojekten. Zum Beispiel Beatriz. Sie lebt in Maranhão, Brasiliens ärmsten Bundesstaat im Nordosten. Gewalt, Drogen und Perspektivlosigkeit prägten ihre Kindheit. Drei Jahre ist es jetzt her, dass das britische Kinderhilfswerk Plan International in der ländlichen Gemeinde São José de Ribamar seine Arbeit aufnahm.
Zu Anfang wollte Beatriz nur eines: Fußball spielen. Aber die damals 14-Jährige fand durch den Fußball auch zu sich selbst. Mit dem Sport lernte sie neue Freunde kennen und wurde sich ihrer Rechte bewusst. Sie begann Gender-Workshops zu organisieren und vertrat ihre Schule, wenn in der Region über die Rechte von Kindern und Jugendlichen diskutiert wurde. Sie nahm an einer Nationalen Konferenz zum Kinderrechtsstatut in der Hauptstadt Brasília teil, wurde zur Aktivistin in Sachen Frauenfußball. Heute ist Bildung Beatriz’ Lieblingsthema, und auch viele Jungen haben von ihr gelernt, dass es im Fußball nicht nur um Tore gehen muss. Die Scouts waren vor drei Jahren in Maranhão auf der Suche nach einem Fußballtalent, gefunden haben sie ein engagiertes Mitglied der Gesellschaft.