Spanien endlich patriotisch

Bis zum Beginn der WM interessierte sich niemand für die Fußball-Nationalmannschaft. Jahrzehnte zählten nur die Clubs der Liga. Doch Raul & Co. begeistern und erzeugen ein neues Kollektivgefühl

AUS MADRID REINER WANDLER

Die Spanier feiern den Einzug ihrer Nationalelf ins Achtelfinale mit einem Ruf: „¡A por ellos!“ – was dem deutschen „Auf sie mit Gebrüll!“ entspricht. Die rot-gelbe Nationalfahne und die Nationaltrikots werden zum Verkaufsschlager. „Sí, sí, sí vamos a Berlin“ – „Ja, ja, ja, wir fahren nach Berlin“, heißt das Motto der Stunde, das nach jedem Tor angestimmt wird. Nicht nur Schüler, auch Angestellte in den Büros tauchen mit dem Nationaltrikot unter der Anzugjacke bei der Arbeit auf. „Aufgestanden! Die Hymne!“, schreit der Fernsehkommentator. Die Jugendlichen vor der Großbildleinwand im Herzen Madrids gehorchen ebenso wie die Fans im Stadion und singen mit. Das ist nicht ganz leicht bei einer Hymne, die keinen Text hat.

„Irgendetwas geht hier vor“, wundert sich einer der Sportreporter der hauptstädtischen Tageszeitung El Mundo über die Welle des Patriotismus, die das Land befällt. Dabei war bis zum Anpfiff des Spieles gegen die Ukraine vergangene Woche alles wie immer. Niemand hätte auch nur einen Pfifferling für die Elf um Raul gegeben. Spanier lieben ihren Club, doch an die Nationalmannschaft glauben sie nicht.

Die fehlende Begeisterung hat nicht nur mit den fehlenden sportlichen Erfolgen der Nationalmannschaft zu tun. Sie ist auch ein politisches Problem. Zwei der wichtigsten Fußballregionen des Landes – Katalonien mit dem FC Barcelona und das Baskenland mit Atletic de Bilbao – identifizieren sich nur bedingt mit Spanien als Ganzem. Hier sind Nationalismus und Streben nach Unabhängigkeit stark.

Ein Ruf, in der Nationalelf zu spielen, begeistert bei weitem nicht alle Kicker aus diesen Regionen. Länderspiele können weder im Baskenland noch in Katalonien ausgetragen werden. Proteste wären vorprogrammiert. Und auch im restlichen Spanien sind nationale Symbole wie Fahne, Hymne und auch Nationalelf mit dem Makel der unrühmlichen Vergangenheit unter der Franco-Diktatur behaftet.

Doch nach dem 4:0 gegen die Ukraine und dem 3:1 gegen Tunesien, das den Einzug ins Achtelfinale perfekt machte, ist plötzlich alles ganz anders. Kolumnisten suchen nach dem Grund für den ungewöhnlichen Patriotismus und werden fündig: „All diejenigen, die endlich ein kollektives Freudenereignis für Spanien wollen, um damit harte Jahre zu beenden, in denen das Volk nur im Leid zusammenstand, wie beim 11. März, und in denen wir neue Instabilität und Zerstrittenheit durchleben, hängen sich mit einem ungewohnten Wahnsinn an die Nationalmannschaft“, stellt El Mundo fest.

Mit anderen Worten: Fußball als Therapie gegen das Trauma der Anschläge auf die Pendlerzüge von Madrid und als Aspirin gegen die Kopfschmerzen, die die Debatten um Autonomiestatute versus Einheit Spaniens verursachen.

Doch dieser Drang nach einem Gemeinschaftserlebnis schüttet viele, aber nicht alle Gräben zu. Katalonien und das Baskenland bleiben auch dieses Mal außen vor, das zeigen die TV-Einschaltquoten. Wenn wundert es da, dass die Politiker auch angesichts des neuen Patriotismus ihre Auseinandersetzung über das, was Spanien denn nun ist, fortführen.

Es seien die Siege „des pluralistischen Spaniens“, das die Menschen auf den Straßen feiern, meinen die Sozialisten von Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero, während sein konservativer Kontrahent Mariano Rajoy „den Stolz der ältesten Nation Europas“ ausmacht. Nur in einem sind sich die über die Regionalpolitik völlig zerstrittenen Politiker einig. Die Elf um Mannschaftskapitän Raul habe das Zeug, Weltmeister zu werden – auch wenn dann noch zu klären wäre, für wen oder was sie eigentlich den Titel gewonnen haben.