: Halbierte Modernisierung
Auch für diese Bundesregierung gilt: Sie nimmt das Geld auf die falsche Weise ein und gibt es auf die falsche Weise aus. Das eine kostet, das andere schafft keine Arbeitsplätze
Die Regierung Merkel ist gerade mal ein gutes halbes Jahr im Amt, da werden schon Bilanzen gezogen und Warnmeldungen abgesetzt: In den nächsten Wochen und Monaten werde sich zeigen, was von dieser Regierung wirklich zu erwarten sei. Es steht ja tatsächlich einiges auf der Tagesordnung: der Haushalt, die Familienpolitik, Gesundheitsreform und Unternehmensteuern – und über allem die Entwicklung in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt.
In Wahrheit allerdings hat die Regierung mehr Zeit, als jene meinen, die jetzt schon Alarm schlagen, oder gar, wie die Kanzlerin selbst, Deutschland zu einem „Sanierungsfall“ ausrufen. Klar ist nur: Reformen und Regierungen scheitern, wenn sie sich und der Öffentlichkeit nicht Rechenschaft geben über einige zentrale Fragen: Worin liegt eigentlich das zentrale Problem des Landes? Haben wir ein Einnahmeproblem, ein Ausgabeproblem oder Strukturprobleme? Und: Mit welcher Perspektive, vor welchem zeitlichen Horizont kann es gelingen, erst öffentliche Aufmerksamkeit und dann Zustimmung zu gewinnen?
Wer vor allem ein Einnahmeproblem diagnostiziert, wird zusehen, dass neues Geld in die Systeme und in die öffentlichen Kassen kommt. Wer ein Ausgabeproblem sieht, wird immerfort sparen und kürzen. Beide Richtungen unterscheiden sich radikal in ihren Rezepten und Wirkungen und haben doch große Gemeinsamkeiten. Es ist nie genug. Es wird immer mehr vom Gleichen gewollt, mehr Steuern oder mehr Sparen – und doch kommt man nie ans Ziel. Beide Schulen denken in der Logik der Verteilung und nicht der Entwicklung. Hier wie dort ist es der Glaube an einen politischen und sozialen Monetarismus, der in guten Zeiten so unsystematisch und unsozial austeilt, wie er in schlechten einsammelt.
Gemeinsam ist ihnen schließlich die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach einem intelligenten Design für jene Strukturen, die hinter dem Rücken der Akteure dafür sorgen könnten, dass die individuellen und kollektiven Anstrengungen zu besseren Ergebnissen führen als gegenwärtig. Wie müssten in einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft eine intelligente „Organisation“ der Bildung, der Familie, des Sozialstaates, der Arbeitswelt aussehen, die insgesamt zu mehr Wohlstand und Wohlfahrt, zu mehr Wachstum und mehr sozialer Gerechtigkeit führen? Und beide Richtungen denken von der Vergangenheit und nicht von der Zukunft her. Alles wird schlechter, sagen die einen. Es könnte wieder so werden wie früher, sagen die anderen, wenn nur die alten Tugenden und Rezepte wieder in ihr Recht gesetzt würden.
Doch eine Vielzahl der Probleme, mit denen sich Regierungen schon lange herumschlagen, hat ihren Grund in einem einfachen Sachverhalt: Die öffentlichen Hände nehmen das Geld auf die falsche Weise ein, und sie geben es auf die falsche Weise aus. Nicht Höhe und Umfang der Mittel wären dann das eigentliche Problem, sondern wie der Staat sie kassiert und wofür er sie ausgibt. In Deutschland kommt das Geld mehr über Beiträge, weniger über Steuern als in anderen Ländern, und es geht überdurchschnittlich in Transfers und weniger in Investitionen in Menschen und Strukturen, Bildung und Dienstleistungen.
Das eine kostet, das andere schafft keine Arbeitsplätze. Das Ergebnis ist bekannt: hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Bedingungen für das Wachstum menschlicher und wirtschaftlicher Potenziale. Ein Sozialstaat, über Beiträge finanziert, unterspült fortlaufend seine eigenen Fundamente. Ein Sozialstaat hingegen, steuerfinanziert, der vor allem in Bildung und in Dienstleistungen investiert, schafft Arbeitsplätze und neues Wissen und Produkte und sichert so seine eigene Zukunft.
Von diesem konzeptionellen Bezugsrahmen lassen sich Kriterien ableiten, die man auch an die aktuelle Politik anlegen kann. Wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Länder wie zum Beispiel in Skandinavien stecken mehr Steuergelder in den Sozialstaat als Deutschland. Die Maxime von der Beitrags- zur Steuerfinanzierung ist gerade aus sozialen Gründen richtig. Das bedeutet natürlich höhere Steuern. Aus der Perspektive der Vergangenheit wird man titeln: größte Steuererhöhung seit 1949.
Mit Blick in die Zukunft wird man die Regierung einmal daran messen, wofür sie in den nächsten Jahren das neue Geld ausgeben wird – zum Stopfen von Haushaltslöchern, zur Finanzierung von Steuererleichterung für Unternehmen oder aber zur Senkung der Beiträge. Die Gesundheitsreform geht zaghaft, aber doch einen Schritt in die richtige Richtung. Die Gesundheit der Kinder soll der Steuerzahler finanzieren. Diese Reform wird danach beurteilt werden, ob sie nur frisches Geld in alte Kartelle und eine neue Mammutbehörde pumpt oder endlich und längst fällig den Wettbewerb unter den Anbietern im Gesundheitswesen bringt, ohne auf den sozialen Ausgleich zu verzichten.
Vor diesem konzeptionellen Hintergrund wird auch deutlich, worin die Zeitenwende in der Familienpolitik besteht. Die Erfolglosigkeit der alten transferlastigen Familienpolitik war ja offensichtlich, und doch konnte sie die konservative Erzählung aus der Vergangenheit lange nicht erschüttern: Krise der Familie durch einen Verfall der Werte im Gefolge der 68er; also moralische Aufrüstung, Ehegattensplitting für immer, mehr Kindergeld, höhere Freibeträge. Merkel, von der Leyen, Pofalla versuchen erst gar nicht, diese rückwärts gewandte Utopie zu widerlegen, sie zeigen stattdessen dem Publikum einen neuen Film, in dem sich die Mehrheit der jungen Frauen und Männer wieder erkennt: Was müsste geschehen, damit Familien auch in einer veränderten Welt gute Chancen haben; Kinder wieder leichter in moderne Lebensverläufe und ihre Strukturen integriert werden können; der strukturelle Gegensatz zwischen Familie und Gesellschaft entschärft wird? Die CDU beginnt, und das ist neu, Familien von der Zukunft und nicht von der Vergangenheit her zu denken.
So ist die Zwischenbilanz der Koalition durchwachsen. Es gibt historische Durchbrüche (Familienpolitik), offene Flanken (Gesundheitsreform) und große Versuche, die in einer halbierten Modernisierung stecken geblieben sind wie die Reform des Föderalismus. Sie bringt wichtige Korrekturen mit Blick auf die Blockaden der vergangenen zehn Jahre, ist aber zu kurz gesprungen, was einen wettbewerbsfähigen Föderalismus in dreißig Jahren angeht.
Die Koalition ist unterwegs; wo sie einmal ankommt, weiß niemand, auch sie selbst nicht. „Work in Progress“ lautet die harmlose Umschreibung für den Stand der Dinge, aber man wüsste doch gerne etwas mehr über die Richtung und die Architektur des Ganzen. Dann würde auch deutlich werden, dass strukturelle Reformen nicht alles sind, ohne sie aber weder die Finanzierung der Systeme noch die Konsolidierung der Haushalte gelingen kann, von wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Gerechtigkeit ganz zu schweigen. WARNFRIED DETTLING