: Hichem Ben Ammar
TUNESISCHE STIMMEN 3 Der Dokumentarfilmer: Emanzipation heißt Risiken einzugehen
INTERVIEW RENATE FISSELER-SKANDRANI
Über sich: Ich verstehe mich als jemand, der auf naive Weise gedacht hat, ein Weltbürger zu sein und der sich bewusst wird, dass die weltpolitische Ordnung dies unmöglich macht. Und deshalb ist alles, was ich mache, in Wirklichkeit eine Art Wiederaneignung meiner Kultur, meines Landes, auch meiner Zugehörigkeit zu dieser Kultur. Alles, was ich mache, geschieht im Widerstand gegen all das, was im Zuge der Globalisierung eine Illusion von Weltbürgerschaft herstellen will.
Kurzbio: Hichem Ben Ammar, geboren 1958, hat Bildende Kunst studiert. Er ist Dokumentarfilmer, Filmkritiker und Direktor verschiedener Dokumentarfilmfestivals in Tunesien, zum Beispiel der „Douz Doc Days“. In seinem neuen Film, „La Mémoire noire – Témoignages contre l’oubli“ (Die dunkle Erinnerung – Zeugnisse gegen das Vergessen), befragt er Folteropfer der Diktatur. Der Film (mit Förderung der Stiftung der Gedenkstätte Hohenschönhausen und des deutschen Außenministerium) ist der erste Teil einer Nachforschung über die Folter in Tunesien. (www.contreloubli.net/de/projekt/dokumentarfilm)
taz: Was bedeutet für Sie Emanzipation?
Die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen, sein eigenes Leben gestalten und leben zu können. Ich mag diesen Satz: Lieber ein Mensch, der voranschreitet und sich verirrt, als einer, der in einem fremdbestimmten Leben geradeaus geht. Das ist meine Devise. Emanzipation heißt Risiken einzugehen. Sie braucht Mut und muss Unerwartetes aushalten. Dazu gehört auch Leidenschaft, Engagement, Selbstverwirklichung.
Wer oder was hat ihre eigene Emanzipation beflügelt?
Die Helden der Stummfilme und der Komödien meiner Kindheit. Meine Vorbilder sind Buster Keaton, Charlie Chaplin, Jerry Lewis und Spartacus. Ich glaube, Chaplin hat in mir sowohl die Poesie erweckt als auch den Widerstand und die Fähigkeit, hier und jetzt glücklich zu leben. Jerry Lewis hat mir die Fantasie und den Überschwang gelehrt, Buster Keaton, auch Laurel und Hardy haben mich darin bestärkt. Spartacus hat mich bewusst gemacht.
Was heißt für Sie Emanzipation in persönlichen Beziehungen?
Respekt und Liebe. Ich bedauere oft, dass wir nicht zärtlicher miteinander umgehen. Aber es ist vor allem der Respekt voreinander, der uns die Emanzipation ermöglicht. Aber eine wirklich emanzipierte Beziehung kann nicht ohne Liebe gelebt werden.
Was bedeutet für Sie die Emanzipation Tunesiens?
Die tunesische Gesellschaft emanzipiert sich gerade. Wir sind theoretisch auf dem Weg zu Demokratie. Aber so wie es in der persönlichen Lebensgeschichte nicht einfach ist, sich zu emanzipieren, zu verwirklichen, so gibt es auch in unserer Gesellschaft vieles, was uns ganz grundlegend zögern lässt und aufhält. Vor allem: Man emanzipiert sich nie allein. Am Ende brauchen wir die politische Emanzipation. Emanzipation setzt voraus, dass wir alle weiterkommen und gemeinsam den Aufstieg bewältigen.