Der Präsident des Raums

KUNSTSCHAU Mit seiner Malewitsch-Ausstellung erinnert das Amsterdamer Stedelijk-Museum an eine verschüttete Traditionslinie der politischen Kunst

Mit den Bauernbildern der Jahre nach 1927 protestierte der mittlerweile verfemte Künstler, der dann 1935 starb, auf seine Weise gegen die Vernichtung eines Berufsstandes durch Stalin

VON INGO AREND

„Möge die Niederwerfung der alten Welt der Kunst eingeritzt sein auf unsere Handflächen.“ Es läuft einem heute noch ein leichter Schauer über den Rücken bei der Formel, mit der Kasimir Malewitsch 1919 an seine Schüler in Witebsk appellierte, wo der Maler einst als Dozent wirkte. Der pathetische, religiöse Ernst, mit der er die Gemeinschaft der Suprematisten anrief, will nicht recht passen zu dem Pionier der Abstraktion, als den ihn heute noch alle verehren.

Von diesem Pathos bleibt nicht viel in der großen Schau des Amsterdamer Stedelijk-Museums. In dem vor zwei Jahren eröffneten Neubau ist das Werk eines der folgenreichsten Malers des 20. Jahrhunderts am richtigen Platz. Denn in dem aseptischen White Cube der Badewanne, die man vor den alten Klinkerbau des Stedelijk gesetzt hat, herrscht genau jenes sphärische Reich der Gegenstandslosigkeit, als deren Vorschein Malewitsch seine Kunst sah.

Mit 500 Werken, chronologisch gereiht, zeigen die Kuratoren Geurt Imanse und Bart Rutten Malewitsch im Umfeld der Avantgarde. So machen sie sein Werk zu einem Objekt des vergleichenden Blicks. Und zeigen ein Genie als Produkt seiner Zeit: Das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Impressionismus übte, dann den Symbolismus kopierte, bis er über den Neoprimitivismus und Kubofuturismus zur dem „fand“, was mit „Abstraktion“ nur ungenau beschrieben ist.

Im Herrgottswinkel

So radikal dieser Wechsel war, so aufsehenerregend inszenierte Malewitsch ihn. In der legendären Gruppenausstellung „Die letzte Ausstellung futuristischer Gemälde. 0,10 (Null, zehn)“ 1915 in Petrograd hängte er sein „Schwarzes Quadrat“ auf den traditionell der Ikone vorbehaltenen „Herrgottswinkel“ im Raum – eine blasphemische Frechheit, die ihm das nachhaltige Missverständnis eingetragen hat, eine neue Kunstreligion begründen zu wollen. Trotzdem schaut man sich den Amsterdamer Nachbau der Installation, die die Kunstwelt auf ihren „Nullpunkt“ stoßen sollte, heute eher wie eine klinische Versuchsanordnung an, nicht wie einen Altar.

Denn heute ist der Suprematismus ein Kunstgeschichts-Ismus unter vielen. Die klassische Malerei, die Malewitsch verabschieden wollte, ist noch immer der unsterbliche Darling der Kunstwelt. Und das technoide Herrentum des Suprematismus, das die von Malewitsch bebilderte Avantgardeoper „Der Sieg über die Sonne“ 1913 feierte, ist heute indiskutabel. Dennoch elektrisiert die Amsterdamer Schau.

Denn hier wird eine Traditionslinie der politischen Kunst aufgerufen, die nicht nur den Adepten des Stalin’schen Realismus unterlag. Sondern die auch zugunsten eines unpolitischen Klassikers verschüttgegangen ist. Und deren Werke ohne die Sammelwut von Nikolai Chardschijew und George Costakis, aus deren Beständen die Schau im Wesentlichen bestückt ist, wahrscheinlich für immer verloren gegangen wären.

Man könnte sich kaum einen stärkeren Kontrast zu der Politisierung der Künste auf den Biennalen der Welt heute denken als den Revolutionskünstler, dem es um die „Suprematie der reinen Empfindung“ ging. Der die „Eierschale der Naturschöpfungen“ zerbrechen wollte, um in eine Dimension jenseits von Gegenstand, Mimesis oder Fiktion vorzudringen. Zwar wollte Malewitsch schon eine „Neue Welt“ aufbauen. Doch diese neue Welt war für ihn die „Wüste der Gegenstandslosigkeit“.

Die Politik der Form

Malewitsch war die Form politische Botschaft. Sein scheinbar unpolitisches Bekenntnis, dass „Kunst nur sich selbst zum Inhalt haben kann“, lässt sich aber auch politisch lesen: Als Akt der radikalen Überschreitung der Wirklichkeit. Es klingt nach Größenwahn, ist aber nur folgerichtig, wenn der Mann, der seine Flächen als „Keimlinge eines von Farbe gesättigten Raumes“ beschrieb, sich selbst als „Präsident des Raumes“ sah, wie er in einem Brief an seinen Freund Michail Matjuschin schrieb.

Diese Haltung wird auch dadurch nicht weniger glaubwürdig, dass Malewitsch in seiner postsuprematistischen Phase wieder figurativ malte. Mit den Bauernbildern der Jahre nach 1927 protestierte der mittlerweile verfemte Künstler, der 1935 starb, auf seine Weise gegen die Vernichtung eines Berufsstandes durch Stalin.

Wer dieser Tage Amsterdam besucht, kann sich einer faszinierenden ästhetischen Zerreißprobe aussetzen. Auf der einen Seite des Museumpleins lockt der Mann, der mit dem weißen Quadrat am Ende selbst die Farbe überwinden wollte. Direkt gegenüber wird im frisch renovierten Van-Gogh-Museum einem Mann ein Hochamt ausgerichtet, der genau dieser befreiten Farbe den Weg bahnte.

Die großartige Ausstellung entbehrt insofern nicht der Ironie, als mit dem sorgsam restaurierten Oeuvre des Avantgardisten ein Mann im Museum gelandet ist, der die Kunst in eine andere Welt entgrenzen wollte. „Wer von seiner Stirn die Strahlen der gestrigen Sonne fortlegen kann; und wer nicht durch Anprobieren der Autoritäten des Abends nach der Zuflucht der Museen sucht, der wird in unseren Hörsälen des neuen Tages Platz finden“, schrieb Malewitsch in einem anderen Brief.

So könnte man analog zu seiner bissigen Kritik an der Idolatrie Lenins, als die er spätestens die Errichtung von dessen Mausoleum sah, sagen: Der wahre Malewitsch ist in uns. „Man kann ihn nicht kremieren.“

■  Bis zum 2. Februar, Stedelijk-Museum, Amsterdam. 11. März bis 22. Juni, Bundeskunsthalle, Bonn. Ausstellungskatalog (Verlag der Buchhandlung Walther König), 29,80 Euro. Katalog der Chardschijew-Stiftung (Nai010 Publishers), 49,50 Euro