crime scene : Norwegische Traurigkeit: Jo Nesbøs „Das fünfte Zeichen“ und Frode Gryttens „Die Raubmöwen besorgen den Rest
Eine These: Die traurigsten Männer in der Kriminalliteratur kommen dieses Jahr aus Norwegen. Beispiel eins: der Trinker. Ist das eigentlich ein Trend? Harry Hole, ermittelnde Hauptfigur in Jo Nesbøs Serienmörder-Roman „Das fünfte Zeichen“, zieht, ähnlich wie Oliver Bottinis Kommissarin Louise Bonì, eine verbissene Ermittlungsenergie und ziemlich ungesteuerte Intuition aus dem Kampf des Alkoholikers gegen das Verlangen nach dem Stoff.
Nesbøs Buch ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr ein Kriminalroman von seinem zentralen Charakter abhängen kann. Denn auch mit einer weniger schillernden Ermittlerfigur wäre dieser Thriller sicher nicht ganz unfesselnd zu lesen, doch eigentlich ohne Überraschungen, die über das qua Genre Erwartbare hinausgehen würden. Nur Säufer-Harry sorgt für das gewisse unberechenbare Moment. Im Zweikampf mit dem Bösen zeigt sich der Süchtige als der allen anderen moralisch Überlegene. Denn was ist die Sucht anderes als Ausdruck der Traurigkeit über den Zustand der Welt?
Beispiel zwei: der frustrierte Journalist. Auch Journalisten als Ermittler sind nicht eben selten. Doch nie hat man einen mit so viel Verachtung für den eigenen Beruf und sich selbst umherirren sehen wie Robert Bell, Icherzähler und Antiheld in Frode Gryttens Antikrimi „Die Raubmöwen besorgen den Rest“. In einer kleinen Stadt am großen Hardanger-Fjord fristet er als Lokalredakteur ein Leben weit unter seinen Möglichkeiten. Er hasst seinen Job. Dafür liebt er die Frau seines Bruders. Doch die Affäre geht in die Brüche, was Roberts Verzweiflung an der Welt noch vergrößert. Dann kommt seine große Chance auf eine Titelstory: ein toter junger Mann, dessen Wagen von einem anderen ins Flussbett abgedrängt wurde. Der allgemeine Verdacht fällt auf ein paar jugoslawische Asylbewerber, mit denen der Junge kurz zuvor gestritten haben soll.
Die Sache scheint klar; doch Robert bringt es einfach nicht. Statt den Fall, wie gefordert, reißerisch aufzuziehen, lässt er sogar das einzige Bild verschwinden, das es im Archiv von dem Toten gibt und das den als Neonazi bekannten Jungen bei einer Wehrsportübung zeigt. Während alle Welt die Jugoslawen-Spur verfolgt, geht Robert eigene Wege. Die Zentralredaktion entzieht ihm daraufhin das Thema und versetzt ihn in die Abteilung für Höreranrufe. Sehr viele Dinge geschehen auf einmal. Ein Video wird Robert zugespielt, auf dem die Demontage einer Industrieanlage zu sehen ist. Seine Geliebte verschwindet spurlos. Ein kleiner Roma-Junge, dessen sich Robert angenommen hat, stellt sich als Zeuge des Verbrechens heraus und gerät in Lebensgefahr.
So ungefähr spielt es sich ab, und in der Nacherzählung klingt es durchaus nach einem echten Krimi. Doch sind nicht die äußeren Ereignisse das Entscheidende an diesem Kriminalroman, der die Gesetze des Genres, während er sie oberflächlich zu bedienen scheint, gleichzeitig lakonisch unterläuft. Schwer zu sagen, wie er es genau macht. Obwohl sich ein genrekonformer Plot entspinnt, entwickelt sich die entstehende Spannung nicht analog zur Handlung, sondern teilt sich mehr auf der Gefühlsebene mit – in der ratlosen Faszination für die Unbegreiflichkeit menschlichen Handelns und zwischenmenschlicher Beziehungen. Schließlich löst Robert den Fall und schreibt einen Artikel darüber, den er sofort wieder löscht, ohne dass ihn jemand gelesen hätte. Er wird die Welt nicht verbessern. Und wenn man bei der Lektüre trotz aller Traurigkeit auch eine Art Leichtigkeit des Seins verspürt, so liegt das an dem verehrungswürdigen Understatement, mit dem dieses perfekte Stück Literatur geschrieben ist. KATHARINA GRANZIN
Jo Nesbø: „Das fünfte Zeichen“. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. Claassen, Berlin 2006, 490 Seiten, 19,95 Euro Frode Grytten: „Die Raubmöwen besorgen den Rest“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Nagel & Kimche, Zürich 2006, 237 Seiten, 19,90 Euro