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Archiv-Artikel

So regiert Frank Schirrmacher

Er ist einer der fünf Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er schreibt einen Bestseller nach dem nächsten. Er gilt als Meinungsführer Nummer eins in Deutschland. Wie mächtig ist Frank Schirrmacher tatsächlich?

VON SUSANNE LANG

Hamburg, Mitte Mai 2006. Als das Podest mit den Jurymitgliedern endlich aus dem Untergrund auf die Theaterbühne gefahren ist, versucht der mächtigste Feuilletonist dieser Republik ein Lächeln. Etwas schief sieht es aus, aber es gelingt. Frank Schirrmacher, der fürs Feuilleton zuständige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, steht ganz außen in der Reihe, links außen aus der Perspektive auf die Bühne, rechts außen aus seiner eigenen.

Eine perfekte Position für den Mann, der von ideologischen Lagern nie viel hielt, es sei denn, um die Fronten wechseln und die Lager gegeneinander ausspielen zu können. Je nachdem, welche Perspektive Lohn und Unterhaltungswert verspricht. Eine passende Position, ganz außen und doch dabei – für den Künstler unter den Chefredakteuren.

46 Jahre ist Schirrmacher nun alt, und dass er, damals mit 34 Jahren jüngster je inthronisierter Mitherausgeber aller FAZ-Zeiten, hier, bei dieser jährlichen Selbstpreisung der Branche, bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises in Hamburg, ganz selbstverständlich in der Reihe all der anderen Chefredakteure und Herausgeberinnen stehen würde, mit seinem schiefen Lächeln und seinem Smoking, daran hätte vor genau zehn Jahren niemand mehr geglaubt.

In jenem Mai 1996, zwei Jahre nach Schirrmachers Wahl zum Herausgeber, hatte der Spiegel die Seriosität seiner Doktorarbeit angezweifelt und eine FAZ-Führungskrise heraufbeschworen. Seither hat Schirrmacher nicht nur die schwerste Zeitungskrise der Bundesrepublik 2002 mit dem daraus resultierenden Ende seines Prestigeprojekts, der Berliner Seiten, überstanden, seither hat er auch intellektuelle Größen in Deutschland wie Martin Walser oder Ignatz Bubis desavouiert und seinen eigenen Namen mit Penetranz in den Bestsellerlisten als Marke etabliert. Nun steht der intellektuelle Marktschreier also hier, auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses, und überreicht den Preis für den besten Reporter der Branche.

Und so wie er ungeduldig von den Fußsohlen auf die Zehenspitzen wippt und wieder zurück, wie er den Preis, die Henri-Nannen-Büste, fest umgriffen hält, macht er wieder einmal eher die Figur des Schuljungen, der sich gerade selbst ein Sonderlob abholt. Das unbewegliche Lächeln bleibt, auch als er zur Laudatio anhebt und es Zeit wird für eine seiner legendären Übertreibungen, als er von der Mehrheit stottert, die alle eingereichten Reportagen problemlos hätten bekommen können. Aber diese eine habe doch die „überwältigende Mehrheit“ sofort ergattert.

Dieser Auftritt, die offiziöse Bühne und das glamouröse Event der Branche liegen ihm immer noch nicht. Frank Schirrmacher, der noch vor acht Jahren im letzten der Langzeitinterviews mit der Fotografin Herlinde Koelbl („Spuren der Macht“), betont hatte: „Es bleibt bei der Regel: Wenn da steht, man muss im Smoking kommen, gehe ich nicht hin.“ Ebenso wenig wie er, Frank Schirrmacher, ins Fernsehen gehe, weil er sich nicht inflationieren wolle, weil er hier, in der FAZ, sein Forum habe, das er beherrsche, „das andere beherrsche ich nicht, da werde ich beherrscht“.

Heute, im Frühsommer 2006, beherrscht er es problemlos. Er ist zu Gast in seriösen Talkshows bei Phönix ebenso wie bei der Intimkuschelei von ARD-„Beckmann“, wo er im März auch seinen zweiten Bestseller „Minimum“ der Erregungsöffentlichkeit antrug. 150.000 Exemplare sind nach Auskunft des Karl Blessing Verlags bislang verkauft worden, von seinem ersten Bestseller, „Methusalem-Komplott“, mittlerweile insgesamt eine halbe Million Hardcoverausgaben und zweihunderttausend Taschenbücher.

Mit der ihm qua Amt übertragenen Macht bestimmt er das Feuilleton und seine entideologisierten Gefechte. Sein popkulturelles Projekt, das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, gilt als Leitmedium des Wochenendes. Die Bild-Zeitung druckt seine Bücher vorab und adelt ihn seit sechs Jahren regelmäßig in ihrer Rubrik zu den „Gewinnern des Tages“. In diesem Jahr wurde er im März für den Bestseller „Minimum“ auf deren Seite eins platziert, im Jahr 2004 insgesamt fünfmal für „Methusalem-Komplott“ und seine Folgen.

Er beeinflusst, so suggeriert es zumindest der Meinungsmarkt, das Leben im Alter, die „umprogrammierte“ Gesellschaft und das Gebärverhalten der Frauen – sogar den familienpolitischen Richtungsstreit zwischen den Flügeln der CDU, wie Mitstreiter im Kollegium seines Hauses ernsthaft glauben machen wollen.

Heute also sieht es ganz so aus, als wäre dieser Frank Schirrmacher dort angekommen, wo er, wie sich Weggefährten aus Studienzeiten erinnern, immer schon ankommen wollte: an der Macht oder was so viele Medienmachermenschen für sie halten, der Meinungsführerschaft. Wer sie innehat, bestimmt, worüber die Gesellschaft debattiert. Was bei ihr zählt, ist auch die Performance, der Coup, der krachende Auftritt – nicht notwendig das Interesse an Erkenntnis.

Viele beneiden ihn, ebenso viele bewundern ihn, einige sind ihm in glühendem Hass verbunden, viele in existenzieller Angst vor dem Mann, der über Karrieren, über Geburt und Tod von Autoren, über Starfeuilletonisten und solche, die es werden wollen, entscheide. Der in einer in der Medienlandschaft neuartigen Allianz mit Spiegel und Springer-Verlag kurz davor gestanden habe, die Rechtschreibreform zu verhindern, wie man es im Männerbund Stefan Aust, Chefredakteur des Spiegels, Mathias Döpfner, Springer-Vorstand, und Frank Schirrmacher forciert habe.

Der es nicht dulde, wenn in anderen Zeitungen wie der Welt am Sonntag in einer Beilage zur Frankfurter Buchmesse 2005 seiner Lebensgefährtin Rebecca Casati, stellvertretender Leiterin der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung, ein Satz aus ihrem Roman („Ich fick mich durchs Alphabet“) als Originalzitat untergejubelt wird. Seither vermissen Leser beider Zeitungen einige Namen freier Autoren, die noch im Impressum der Buchmessenbeilage aufgelistet waren.

Diese und andere, sehr viele andere Geschichten sind es, die man sich über Frank Schirrmacher erzählt. Die seine Wirkungsmacht mit jeder neuen Erzählung ein wenig größer, beängstigender und willkürlicher erscheinen lassen.

Politiker müssen sich an Wahlergebnissen messen lassen, Manager an Unternehmensgewinnen. Und Meinungsführer? Ihr Erfolg lebt davon, dass die Gesellschaft, in der sie agieren, an sie glaubt.

An Frank Schirrmacher jedenfalls glaubt sie. An den Aufsteiger, der einst von seiner Geburtsstadt Wiesbaden auszog, um die Welt, also Frankfurt am Main, und die intellektuelle Macht, also das Feuilleton der FAZ, zu erobern. Die Gesellschaft glaubt an den biografischen Künstler, dessen Eintrag zu seiner Person im Onlinelexikon Wikipedia sich zeitweise geschönt las – etwa mit Auszeichnungen, die später wieder gelöscht waren.

Die Gesellschaft glaubt an den Literaturliebhaber und Autofantasten, der es von Beginn an mit Größen wie Thomas Mann hielt, über den Schirrmacher im August 2005 in der FAZ schrieb: „Er hat die deutsche Geistes- und Bildungsgeschichte mit Helden und Bösen versehen, er hat sehr viel weggelassen und sehr viel dazuerfunden – und das ist alles, was noch da ist.“ Helden und Böse, erfinden und weglassen – ein erster Schlüssel zu jenem Mann, der die deutsche Feuilletongeschichte wie keiner zuvor umgeschrieben hat.

Eine persönliche Gesprächsanfrage läuft Mitte Mai, als sich die Branche im Deutschen Schauspielhaus trifft, seit gut zwei Wochen. Die Sekretärin, Monika Stützel, verspricht, Tag für Tag, sich um den Wunsch zu kümmern. Bis dahin lässt sich die professionell inszenierte Warteschleife gut überbrücken. Frank Schirrmacher, der „Felix Krull“ unter den Mächtigen, wie ihn unter anderem Klaus Harpprecht, ehemaliger Redenschreiber von Willy Brandt und einer seiner gepflegten Exklusivfeinde, bezeichnet, ein einnehmender Trickser also, hat genügend Fährten gelegt für eine Annäherung. Es sind die Spuren eines Aufsteigers, dessen Werdegang ohne den Bedeutungsverlust von Intellektuellen in den vergangenen zwanzig Jahren nicht denkbar wäre.

Heidelberg, Anfang der Achtzigerjahre. Der Sturm, der seit den späten Sechzigerjahren durch die Universitäten fegte, hat sich nach und nach gelegt, jetzt sitzen andere Professoren auf den Lehrstühlen – jedoch keine besseren aus der Sicht des Germanistikstudenten, der seinen Frust über die Betonköpfe in Grün aus der Universität mit ins Leben tragen wird. Den politisch korrekten Diskurs, hier die Guten, dort die Schlechten, hier die Progressiven, dort die Reaktionären, empfindet er als langweilend und unergiebig – wie so viele aus der nachfolgenden Generation. Der kulturkritischen Pose kann er nichts abgewinnen.

Frank Schirrmacher verliert sich lieber in Literatur. Liest, bis die Seiten aus den Büchern fallen. Ernst Jünger, Gottfried Benn, Stefan George, Thomas Mann, Franz Kafka – und Joachim Fests Hitler-Biografie, die rasch zum Standardwerk avanciert. Ein sehr ausgewählter Kanon, den er noch heute zelebriert. „Man hatte keine Lust, in der Germanistik die Zwischenprüfung über Habermas zu machen, sondern interessierte sich für Thomas Mann“, so beschreibt er die eigene Motivation, als er längst FAZ-Literaturchef ist.

Als Lebensprinzip entdeckt Schirrmacher bereits in der Jugend die literarische Überformung der eigenen Biografie. „Ich habe wie in einem Bildungsroman gelebt. Das konstituierte mein Bewusstsein. Schon in sehr jungen Jahren habe ich mich aufgemacht und mir Vaterfiguren zusammengesucht. Früher habe ich mein Selbstbewusstsein von diesen Figuren abgeleitet.“ 1991 wird er diese Fährte legen, im ersten Interview mit Herlinde Koelbl über die Spuren der Macht. Seine Antworten aus dieser Zeit sind eine aufschlussreiche Quelle für den Code Schirrmacher, der mittlerweile über seine Person samt Privatleben nur noch selten spricht. Als unseriös empfinde er dies, wie es in einem Porträt des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts heißt.

Schirrmachers fasziniertes Interesse gilt neben Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ dem George-Kreis, der sich aus Künstlern und Wissenschaftlern um Stefan George in männerbündischer und autoritärer Hierarchie sammelte. Ihr Podium sind die 1892 gegründeten Blätter für die Kunst, die unter strenger Aufsicht von George bis 1919 publiziert wurden und sich laut literaturtheoretischem Programm der „künstlerischen Umformung des Lebens“ widmen sollten. Strenger Ästhetizismus hatte über allen politischen oder sozialen „Weltverbesserungen“ zu stehen.

Der Dichter als Führer mit seinen Blättern als Podium – heute hieße das wohl Meinungsführer mit den Blättern des FAZ-Feuilletons.

Dass Schirrmacher später vehement mit Dichterinnen wie Christa Wolf abrechnet und Günter Grass bis heute zu seinen intellektuellen Intimfeinden zählt, ist da nur konsequent. An einem wie Grass muss er sich abarbeiten, an dem späteren Nobelpreisträger, dem Literaten aus Danzig, der in den Fünfzigerjahren zunächst einen Bonus hatte: Er verkörpert einen neuen Typus des Intellektuellen. Im Gegensatz zum großbürgerlichen Dandy, wie ihn etwa Joachim Fest repräsentiert, steht Grass für den nahbaren Rotweintrinker, der sich bis heute, als kämpferischer Sozialdemokrat, unermüdlich in den politischen Diskurs einmischt. Figuren wie Grass müssen bei einem Ästhetizisten wie Schirrmacher auf Verachtung stoßen – gerade weil er selbst mit seiner so oft als kindlich beschriebenen Statur, über die schon so viele hilflos gespottet haben, dem asketischen Ideal des George-Bundes kaum entspricht und die ersehnte intellektuelle Aura beim öffentlichen Auftritt vermissen lässt.

Umso glücklicher fügt sich die Öffnung der deutschen Germanistik in den Achtzigerjahren für den Dekonstruktivismus. Franz Kafka, über den Schirrmacher seine Magisterarbeit verfasst und 1988 promoviert, wird völlig neu erschlossen. Der Prozess des Schreibens als selbstschöpferischer Lebensakt, als Ersatz und gleichsam Tod des realen Ichs – ein Faszinosum für Schirrmacher.

Also studiert Schirrmacher mit Verve, tummelt sich im Kreis der Studienstiftung des Deutschen Volkes und macht sich bei seinen Professoren einen Namen als Vorzeigestudent und Ausnahmetalent. Bei einem seiner Literaturprofessoren zählt er schnell zu den Freunden des Hauses.

Vor allem beeindruckt der Student Schirrmacher schon damals mit seiner Begeisterungsfähigkeit und Neugier, die viele ansteckt. Als die neue Computergeneration mit Basic-Programmiersprache aufkommt, sitzt Schirrmacher stundenlang vor seinem Armstrat, programmiert und programmiert, bis so mancher Zigarettenbrandfleck die Tastatur ziert. Das Neue beherrschen, die neue Technik, das ist es, was zählt.

Ein Emphatiker sei er, sagen Menschen, die ihm nahe stehen, eine Kategorisierung, die erst jüngst heftig diskutiert wurde in einer Debatte über Literaturkritik und wie sie sich zu positionieren habe, am Beispiel des stellvertretenden Leiters des FAS-Feuilletons Volker Weidermann und dessen Literaturgeschichte von 1945 bis heute. Begeisterung statt geistiger Askese. Schirrmacher gibt den Emphatiker, der jedoch nie sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert: Spuren zu hinterlassen. Schon früh beschäftigt Schirrmacher der Topos der Vergänglichkeit, wie er in den Interviews mit Herlinde Koelbl beschreibt: „Was mich immer schon geängstigt hat, ist das Problem der Vanitas, der Vergänglichkeit. Es ist der Tod, der alles in Bewegung setzt. Ein Nie-da-gewesen-Sein, darauf läuft es hinaus. Nicht nichts zu sein, sondern nie da gewesen zu sein.“

Im Umkehrschluss sind es die Spuren der Unvergänglichkeit, die ihn auch in nichtliterarischen Bereichen faszinieren. Als er die Noten einiger der verschollen geglaubten 109 Flötensonaten von Friedrich dem Großen zu sehen bekommt, die ein Freund und Musiker in einem Archiv in Ostberlin entdeckt und abgeschrieben hat, pocht er mit Vehemenz darauf, dass die Sonaten doch auch unbedingt aufgeführt werden müssten. Als größte Genugtuung wird er 1997 einen Tagebucheintrag von Ernst Jünger beschreiben, der ihn, Frank Schirrmacher, in sein biografisches Werk aufnahm. „Es war immer ein infantiler Traum von mir“, gesteht Schirrmacher, „jetzt ist ein Fäserchen meiner Existenz in dieses Werk eingewoben.“

Aus Sicht des Mittzwanzigers kann es in den Achtzigerjahren kaum eine angemessenere biografische Möglichkeit zur geistigen Unsterblichkeit geben als die Eroberung des FAZ-Feuilletons, das zu dieser Zeit wie kein anderes das intellektuelle Leben in Deutschland bestimmt. 1984 bietet Joachim Fest, damaliger Mitherausgeber der Zeitung, auf Empfehlung des Heidelberger Politologen Dolf Sternberger Schirrmacher eine Hospitanz an. Im Juli 1985 ist er Feuilletonredakteur. Mit 26 Jahren. Jetzt beginnt der Kampf nach oben.

Frankfurt, Ende der Achtzigerjahre. Man muss nur kurz die Augen schließen, einmal tief einatmen, die klare Luft zwischen den grünen Bäumen, die neben all den Kaffeehaustischen am Rande der kopfsteingepflasterten Fußgängerzonen in dieser BRD-Kuschelstube Frankfurt am Main gepflanzt sind. Man muss nur einmal das Vogelzwitschern um die roten Sandsteinfassaden der übrig geblieben Altbauten und der vielen grauen Nachkriegsbauten ausblenden, kurz die Familienchinarestaurants und die grell blinkenden „Erotic Center“-Schriftzüge in den Straßen am Bahnhof vergessen und sagen: Das ist Frankfurt. Aber uns gehört die Welt.

Plötzlich ist das Gefühl nachvollziehbar, das die Clique der jungen FAZ-Feuilletonredakteure antreibt, als sie abends nach Redaktionsschluss durch die Straßen Frankfurts laufen. „Wir“, das sind die Jungen, der Nachwuchs, den Herausgeber Joachim Fest nach und nach in sein Feuilleton geholt hat, in erster Linie aus dem Umfeld der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Frank Schirrmacher, Gustav Seibt, Jens Jessen, Jan Roß, Stephan Speicher, Patrick Bahners. Die Rebellen im lange Zeit nationalbürgerlich ausgerichteten Feuilleton, die für ein modernes zeitgenössisches Feuilleton stehen und die Achtundsechzigergeneration im Haus gezielt überspringen sollen. Die Selbstbewussten, die das Benjamin- und Kracauer-Feuilleton der Zwanzigerjahre in einem Verbund ausdrücklich ohne Frauen wiederbeleben wollen. Die aus Übermut gerne in so mancher Redaktionskonferenz mit den Fingern Vögelchen hinter den Köpfen der Altgedienten zeigen oder Scherzanrufe aus der Redaktion bei diversen Professoren tätigen.

Jungs, von denen einer von Anfang an mehr wollte: den Stuhl von Marcel Reich-Ranicki. Er setzt alles daran, den Literaturchef zu beerben, der auf die FAZ-übliche Altersgrenze von 68 Jahren zuschreitet. Schirrmacher, der kleine George im jungen Männerbund. Das „Benjamin-Aufbackbrötchen“, wie sie ihn später nennen werden. Ein Publizist im Umfeld der Zeitschrift Merkur beschreibt die Konstellation mit einem psychoanalytischen Szenarium, der Freud‘schen Brüderhorde: Einer wird sich hervorheben und die Horde zerstören, die Brüder ermorden.

Frank Schirrmacher weiß als an Literatur geschulter Realist, dass Macht nie ein reiner Selbstläufer ist. Er buhlt um die Gunst von Joachim Fest, der 1986 in dem von ihm verantworteten FAZ-Feuilleton den Historikerstreit nicht nur um Ernst Nolte und seine provozierenden vergangenheitspolitischen Thesen austrägt, sondern auch um einen nationalen Patriotismus versus den von Jürgen Habermas in Anschlag gebrachten Verfassungspatriotismus.

Noltes vergleichende Pointierung, der Holocaust sei als eine abwehrende Reaktion auf die „Vernichtungsvorgänge der Russische Revolution“ und somit als nicht einzigartiges Ereignis zu werten, spaltet auch das Feuilleton der FAZ. Fest und die so genannte Viererbande, unter anderem der Historiker Michael Stürmer, damaliger Berater von Helmut Kohl, gegen den Rest. Aber auch gegen Reich-Ranicki, der sich als Auschwitz-Überlebender heftig gegen die Position Noltes verwahrt.

Schirrmacher, der 1994 im Interview mit Herlinde Koelbl betonen wird, dass er „den Historikerstreit nicht für eine Sternstunde der Menschheit halte“, speziell das Debattenniveau bestimmter „falscher Freunde“, die dachten, „mit dieser Zeitung könne man ganz besonders schön in nationalistischen Träumen schwelgen“, dieser Schirrmacher hält sich damals bedeckt und macht den Streit kurzerhand zu seiner persönlichen Sternstunde. Er nutzt die wohl einmalige Gelegenheit, die Differenz zwischen Fest und Reich-Ranicki, und positioniert sich zwischen den ideologischen Lagern.

Den Instinkt für den richtigen Moment, das vorausschauende Gespür für den idealen Zeitpunkt – diese Gabe besitzen nicht viele. Frank Schirrmacher hat sie und wird sie bis heute, bei jedem noch so kleinen vermeintlichen Coup, erneut beweisen. Schneller, geschickter, konsequenter und mitunter brutaler als die anderen.

Als der Zeitpunkt günstig scheint, bittet Schirrmacher Joachim Fest, eine Rede gegenzulesen, die er nach eigener Aussage auf Wunsch der Society of Fellows an der amerikanischen Harvard University halten solle, anlässlich der geschichtspolitischen Debatte in Deutschland, am Beispiel eines epochenprägenden Werkes: Fests Hitler-Biografie, die er in der Rezeptionsbedeutung zu einem Generationenprojekt, seinem Generationenprojekt, stilisiert.

Im Skript der mündlichen Fassung, das der taz vorliegt, führt er es so aus: „Und hier muss ich mit einem persönlichen Geständnis beginnen, ein Geständnis, das ich im Augenblick in Deutschland noch nicht so ohne weiteres ablegen könnte, weil ich gewissermaßen in Berufsbeziehung zum Verfasser stehe und man mir deshalb die Objektivität bestritte: Joachim Fests ‚Hitler‘-Biografie gehört zu meinen großen, unübertroffenen Lektüreerfahrungen. Das Werk, von dem noch methodische Gegner wie Hans-Ulrich Wehler sagen, es gehöre zu den bedeutendsten Analysen Hitlers und des Dritten Reichs, hat eine Wirkung nicht nur über meine Generation erlangt, eine Wirkung, die in allen Debatten noch nicht erklärlich ist [...].“

Bis heute ist ungeklärt, ob Schirrmacher diese Rede tatsächlich gehalten hat, ob es überhaupt einen entsprechenden Auftrag und eine Einladung gab. Die Society selbst hat es nie bestätigt, Schirrmacher dagegen findet einen gewichtigen Zeugen: den Kunsthistoriker und Freund Joseph Koerner, der seine Aussage bestätigt. Sein Ziel hatte Schirrmacher mit der Vorlage des Manuskripts indes erreicht: Fest durfte eine Lobhudelei auf sich selbst erfahren, die Schirrmacher über seinen unmittelbaren Vorgesetzten sonst schwerlich offiziell hätte halten können.

Der Kniff ist genial, gerade weil er so platt inszeniert wird. Damit hätte in der elitären und auf Understatement getrimmten FAZ so schnell wohl niemand gerechnet. Er kommt damit durch.

Am 1. Januar 1989 übernimmt Schirrmacher die Leitung der FAZ-Redaktion „Literatur und Literarisches Leben“. Fest spricht sich dezidiert gegen die Generation der Achtundsechziger in seinem Haus aus, die natürlicherweise am Zug gewesen wäre. Ab jetzt geht es Schirrmacher ums Ganze, um die Formung eines Feuilletons nach seinem Bilde. Um den Weg zur Herausgeberschaft. Und um die Wiederannäherung an Marcel Reich-Ranicki, den selbst ein Frank Schirrmacher nicht als Feind wissen möchte, wie er lange vor seiner Verteidigung von Martin Walsers Paulskirchenrede 1998, dem Lamento über die „moralische Keule Auschwitz“, ahnt.

Und lange bevor er jenen Martin Walser 2002 mit einem öffentlichen Brief anlässlich des noch unveröffentlichten Buches „Tod eines Kritikers“ mit schweren Antisemitismus-Vorwürfen, gegen die er ihn zuvor verteidigt hatte, gleichsam selbst hinzurichten versucht. Eine Debatte, die wegen ihres Tabubruchs einschlug: Zum ersten Mal in der deutschen Verlagsgeschichte wurde ein noch unveröffentlichtes Buch heftig diskutiert. Ein Coup. Aus seiner, aus Schirrmachers Sicht.

Hamburg, Mitte Mai 2006. Was Frank Schirrmacher heute wie damals wirklich liegt, ist die Party nach jeder offiziösen Feierlichkeit, wie auch diese in der Kantine, im Keller des Deutschen Schauspielhauses, wo beim Dinner Kerzenleuchter künstlichen Glanz auf so manch schweißperlende Stirn zaubern. Von jetzt an wird es auch sein Abend sein, auf der inoffiziellen Bühne, zwischen den runden Tischen, an denen nun die Mitglieder der Mediengesellschaft ihre Plätze einnehmen. Nur einer wird beständig zwischen allen Tischen herumflitzen, die aus der Vogelperspektive wie die Knotenpunkte eines Netzwerks aussehen, das sich informell über den Abend spannt. Frank Schirrmacher wird seine Reise nach Jerusalem spielen. An jedem Tisch ein Stuhl, der frei ist, kurz auch für ihn.

Als Helmut Markwort, Focus-Chefredakteur, vom Buffet zurückkehrt und seinen Platz einnehmen will, steht Schirrmacher auf. Die Männer lachen. Selbstverständlich dürfe Schirrmacher seinen Stuhl kurz haben. Machtkoketterie. Schirrmacher stromert weiter. An den Nebentisch, an dem Joachim Fest mit Tischgesellschaft residiert, der an diesem Abend zuvor für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Schirrmacher begrüßt seinen lange Zeit bewunderten Vorgänger mit einem Händedruck. Fest bleibt sitzen. Sie reden. Schirrmacher steht. Und leiht sich dann einen freien Stuhl vom Nebentisch.

Als sich Joachim Fest auf der offiziellen Bühne zuvor für die Auszeichnung seines Lebenswerks bedankt, zieht er ein schönes Lebensfazit: Gelassener sei er geworden im Alter, nun ertrage er die Clowns, von denen es sehr viel mehr unter den Menschen gebe, als man vermutet hätte. „Man muss sie als solche erkennen.“

Der Bruch mit Fests ehemaligem Schützling Schirrmacher habe sich bereits Anfang der Neunzigerjahre abgezeichnet, erzählt ein enger Vertrauter von Fest, der 1994 als FAZ-Mitherausgeber ausscheidet. Von nun an zählen für Schirrmacher andere: Hugo Müller-Vogg, damaliger CDU-naher Mitherausgeber der FAZ, zuständig für den Regionalteil und später die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Und Helmut Kohl, Bundeskanzler mit Wendebonus.

Frankfurt, Mitte der Neunzigerjahre. Die Redaktion der FAZ, dieser vermeintlich unbeweglichen Institution, wechselt ihr Gesicht. Sie zieht in einen Neubau auf der gegenüber liegenden Seite der Hellerhofstraße, mitten im Gallusviertel, einem Arbeiterviertel mit damals vielen leer stehenden Lagerhallen und schmutzigen Fassaden. Nun residiert sie in einem hellen Bau, in der Form eines lang gezogenen L, wie am Modell gut zu erkennen ist. Das Tageslicht fällt durch ein Glasdach in den Empfangsraum. Es ist still, ab und an verlassen Mitarbeiter zum Feierabend das Gebäude. Man grüßt, freundlich. Von der so oft beschriebenen Trutzburg ist wenig zu spüren.

Im Trakt des vierten Stockes, wo nach klarer Hierarchie das Feuilleton residiert – die Wirtschaft im dritten und die Politik im zweiten –, arbeitet zum damaligen Zeitpunkt einer an einer noch bedeutenderen Veränderung des Hauses. Frank Schirrmacher wird sich nicht mit dem Posten des Literaturchefs begnügen, den er zum damaligen Zeitpunkt nach eigenem Empfinden immer noch als „Ausnahmezustand“ erlebe, wie er im Gespräch mit Herlinde Koelbl bekennt.

Es ist sein Hang zur Koketterie, den Schirrmacher bei Bekundungen dieser Art ausspielt, nicht etwa Selbstironie. Er inszeniert sein Amt und seine Person als zu wichtig, als dass er sie tatsächlich hinterfragen wollte. So habe die „Vorstellung, dass ich vierzig Jahre lang Literaturchef der FAZ bleiben könnte, ja durchaus etwas Beängstigendes, vielleicht nicht nur für mich, auch für meine Umwelt.“

Wie sehr er damit Recht haben sollte, zeigt sich 1996, als er seit zwei Jahren Mitherausgeber der FAZ ist und der Spiegel über den „Überflieger im Abwind“ schreibt. Schirrmachers Doktorarbeit, die formalen Universitätsregeln angeblich nicht genüge, weil sie bereits im Suhrkamp Verlag publiziert war, ist nur der Aufhänger für die Spiegel-Geschichte, die ein klares Ziel hat: seinen Sturz. Das FAZ-interne Unbehagen an Schirrmacher ist zu groß geworden.

Schirrmacher gibt den Chef nach allen Regeln der Führungskunst; ein Tabubruch im bis dahin bis zur Selbstverleugnung beherrschten Umgang innerhalb der FAZ. Schirrmacher lebt von der Aura, die eine Institution wie die „Zeitung für Deutschland“ (FAZ-Selbstverständnis) und ein Amt wie das des Herausgebers auf seine Person übertragen, und reizt sie aus. Gerade weil ihm das natürliche Charisma eines Chefs fehlt.

Was Schirrmacher rettet, ist ein Statement, das ihn nach außen hin absichert. Von jenem Mann, der 1994, unter anderem mit Unterstützung von Helmut Kohl, Schirrmachers Inthronisierung als Herausgeber forciert hat. Gegenüber dem Magazin Focus lässt Hugo Müller-Vogg am 20. Mai 1996 wissen, dass die Herausgeber der FAZ natürlich zu Frank Schirrmacher stünden. „Das sollten alle Spiegel-IMs genau wissen.“

Fünf Jahre später wird Hugo Müller-Voggs Arbeitsverhältnis in einem ebenso Aufsehen erregenden Zug beendet, unter Zustimmung aller Herausgeber. Schirrmacher macht von seinem Vetorecht keinen Gebrauch. „Ohne mich wäre Schirrmacher nicht Herausgeber geworden“, betont Müller-Vogg. Bis heute nimmt er, mittlerweile bei der Bild-Zeitung als Kolumnist tätig, Schirrmacher das damalige Verhalten übel.

Was Schirrmacher bleibt, ist nicht nur die Herausgeberschaft. Menschen, die ihn damals erlebt haben, sprechen von einem tiefen Trauma, von Psychoszenen und Besserungsgelöbnissen. Es ist der Moment, von dem an Schirrmacher sein Augenmerk sehr genau auf seine Feinde und jene, die er als solche ausmacht, richten und gegebenenfalls mit aller Härte zurückschlagen wird. In den folgenden Jahren verlassen nach und nach Feuilletonmitarbeiter das Blatt – ein bis dahin undenkbarer Vorgang.

Eine FAZ-Anstellung, das bedeutete lebenslänglich. Bis heute ziehen sich die Spuren jener alten Feindschaften durch die Feuilletons, wenn etwa ein Buch eines Abtrünnigen von Schirrmachers Doktorvater und Förderer Hans Ulrich Gumbrecht mit persönlicher Verve statt mit Augenmaß im FAZ-Feuilleton verrissen wird.

Nach der Krise legt Schirrmacher alle Kraft in die konzeptionelle Neuausrichtung des Feuilletons, die ebenfalls einem Tabubruch innerhalb der FAZ gleichkommt. Er öffnet es für die Naturwissenschaften, denen er im Jahr 2000 besondere Aufmerksamkeit verschaffen wird, als er den gesamten Code des entschlüsselten menschlichen Genoms mit weitgehendem Verzicht auf Kommentar oder Einordnung im Feuilleton abdrucken wird – und wieder einmal für eine aufgeregte Kurzweildebatte sorgt.

Auch zur Zeit der Berliner Seiten, seines ehrgeizigen Hauptstadtkulturprojekts, wird er dieser Linie treu bleiben und Journalisten wie den Biologen Cord Riechelmann ans Blatt binden, der sich noch gut an einen seiner ersten Aufträge erinnert: Eines Tages bekam er einen Anruf von Frank Schirrmacher, der nach diversen Zoobesuchen mit seinem Sohn das Gefühl habe, dass die Giraffe ihn wiedererkenne. Ob dies denn wohl sein könne?

Riechelmann schätzt das persönliche Interesse Schirrmachers an Themen. Auch wenn er von dessen Ansatz, Natur und Biologie metaphorisch auf politische Verhältnisse zu übertragen, nicht viel hält. „Aber meine Einstellung hat er immer akzeptiert“, meint Riechelmann, der die Horrorszenarien vom willkürlichen Eingreifen Schirrmachers in Inhalte des Blattes nicht bestätigen kann. Schirrmacher schätze Leute, die sich nicht von den Verhältnissen dominieren ließen, solange dies kompatibel sei mit dem bürgerlichen Leben. „Er ist ein guter Blattmacher.“

Und als solcher öffnet Schirrmacher auch nach und nach das Rezensionsfeuilleton für politische Debatten. Joschka Fischer und Gerhard Schröder sind die neuen Figuren, die seine Neugier geweckt haben. Wieder einmal setzt er mit seinem Instinkt auf die Richtigen zum richtigen Zeitpunkt.

Zur vollen Geltung kommt die Neuausrichtung seines Feuilletons allerdings erst heute, in der Medienrepublik Berlin, in der sich auch in anderen Zeitungen zunehmend die Grenzen zwischen klassischen Ressorts vermischen und sich ausgezeichnete Politikredakteure schon mal zu einem Ausflug in die Magazine ihrer Blätter verführen lassen, mit Geschichten aus der Kindheit im Keller oder dem ersten Urlaub auf dem Balkan.

Im Feuilleton dagegen finden die oftmals schärferen, gesellschaftspolitischen Analysen und Auseinandersetzungen statt, auch die Dramatisierung und Personalisierung der Debatten, ihre Literarisierung. Helden und Böse. Als Gerhard Schröder 2005 nach der Bundestagswahl in der Fernsehrunde Angela Merkel den Sieg abspricht, ist es Frank Schirrmacher, der am nächsten Tag die „Entgleisung des Aufputschers“ kommentiert. Und er ist es, der im vorausgegangenen Wahlkampf in die Welt des Paul Kirchhof eintauchte und die CDU-Professoren-Hoffnung einen Tag lang begleitete. Der diesmal von der Realität geschaffene Ausnahmezustand ist zu gut, als dass Schirrmacher ihn unkommentiert lassen könnte.

34 Jahre jung war Schirrmacher, als er das Amt übertragen bekam. Viele der Geschichten und Debatten, die in den bis heute vergangenen zwölf Jahren stattfanden, folgten dem gleichen Prinzip: der Lust am Tabubruch, an gedanklicher Unkonventionalität. Dem nie saturierten, napoleonischen Streben nach Bedeutung, dem unbedingten Willen zur Meinungsführerschaft. Dem Mut zur Lücke, wie manche aus Erfahrung sagen.

Schirrmacher lebt und genießt die selbst verursachten Stahlgewitterchen.

Berlin, 2006. Auch wenn Menschen, die ihm heute beruflich nahe stehen, bereits von Altersmilde reden, die im Umgang mit seinen Mitarbeitern immerhin eingesetzt habe – das Freund-Feind-Schema gilt. Mit einem Unterschied: Schirrmachers Kreis hat sich für einen intermedialen Allianzenbund geöffnet, für Männer aus Konkurrenzverlagen und Zeitungen: Mathias Döpfner, Springer-Vorstand; Stefan Aust, Spiegel-Chefredakteur; Kai Diekmann, Chefredakteur der Bild-Zeitung; Matthias Matussek, Kulturchef des Spiegels; Paul Sahner, Chefreporter der Bunten; Helmut Markwort, Focus; Christoph Keese, Chefredakteur der Welt am Sonntag; Matthias Landwehr, Chef der Literaturagentur Eggers & Landwehr.

Ein Foto in seinem Herausgeberbüro in Frankfurt symbolisiert sehr schön, worum es Schirrmacher in diesem neuen Bund geht, gemeinsam mit den neuen Jungs: Es zeigt ihn mit Stefan Aust und Norbert Körzdörfer, dem Bild-Reporter, bei einem Ausflug nach Camp David. Mit in der Runde: Bill Clinton, ehemaliger Präsident der USA.

Heute gilt es, an jedem Tisch der Mächtigen einen freien Stuhl zu wissen, wenn auch nur kurz. Heute gilt es, die Welt, also den Markt, zu erobern. Und wie so oft in der Medienbranche sind es informelle Absprachen, die den Bund zusammenhalten. Selbstverständlich betont ein Alexander Gorkow, Leiter der SZ-Wochenendbeilage, im Hinblick auf das kolportierte Schreibverbot für WamS-Autoren nach dem Eklat der Buchmessenbeilage, dass auf sein Ressort seine SZ-Kollegen und er selbst Einfluss ausübe, niemand sonst. Und selbstverständlich äußern sich weder Mathias Döpfner noch Matthias Matussek noch Matthias Landwehr offiziell zu Frank Schirrmacher.

Rückschlüsse lassen sich jedoch aus den Inhalten der Zeitungen und Magazine ziehen. Dort ist die Kooperation oftmals unmittelbar nachzuvollziehen, nicht nur anhand der Bild-Zeitung. So auch im Spiegel, der unter Regie von Matthias Matussek Schirrmachers Buch „Minimum“ ein Forum gibt, in Form eines wohlgesinnten Interviews, ergänzt mit einer Buchrezension durch den Kulturchef selbst. Im Gegenzug bezieht sich Matussek in seinem aktuellen Auchbestseller „Wir Deutschen“ nicht nur einmal auf Schirrmacher und lobt seinen „kalten soziobiologischen Blick auf die Welt“. Die FAS wiederum bietet eine Seite im Feuilleton für ein ausführliches Gespräch mit Matussek, flankiert von einer Werbeanzeige drei Seiten weiter. Mit einem kleinen Wermutstropfen allerdings: Das Interview fällt kritisch aus, und Matussek, heißt es, fühlte sich prompt verraten.

Schließlich übernimmt als Vierte im Bunde die Welt am Sonntag die eigentlich für den Spiegel geplante, dort aber nach Widerstand in der Chefredaktion abgelehnte Titelgeschichte von Matussek: ein Paket aus bearbeitetem Buchvorabruck und Umfragen unter Intellektuellen zum Nationalstolz der Deutschen.

Als heeres Ziel des feuilletonistischen Trommelwirbels, dieses ausgeklügelten Eigen-PR-Systems, proklamieren die Akteure unter Federführung von Mathias Döpfner und Frank Schirrmacher indes etwas anderes, Größeres. Das Feuilleton solle wieder zurückkehren zum klassischen Kulturjournalismus, zum Genre der Rezension. Der Kritiker brauche folgende Qualitäten: „Mut, Hybris, einen leichten Hauch von Größenwahn“, so sieht es Schirrmacher. Und so werde es am Feuilleton liegen, die gesamte Zeitung zu verbessern, so sieht es Döpfner.

Die Zukunft des Journalismus wiederum liege angesichts des Mediums Internet in der Autorität der Journalisten, die den Weg durch die neue Dimension von Öffentlichkeit, die so genannte Informationsflut, weisen müssten. „Wenn jede Information für jedermann jederzeit überall verfügbar ist, dann wächst das Bedürfnis nach Orientierung, Auswahl oder dem, was den guten Zeitungsjournalisten ausmacht: Führung“, schreibt Döpfner in einem Essay in der Welt am 8. Mai dieses Jahres. Der Journalist als „Führer“. Wieder einmal diese eine, alte Idee.

Da erstaunt es nicht mehr, dass jemand wie Thierry Chervel, Gründer und Chef des Metafeuilletons „Perlentaucher“, das täglich im Internet eine kommentierte Zusammenschau der deutschsprachigen Kulturteile erstellt, nicht immer gern gesehen wird. „Was die Hierarchen an Perlentaucher stört“, meint Chervel, „ist, dass wir die Spielchen transparent machen, dass sie dadurch Macht über Themen einbüßen.“ Ihn stört vor allem, dass die Zeitung als Institution morsch werde und zu einem Forum der Selbstinszenierung von Journalismus. „Die Feuilletons haben nicht selten den Wahrheitsanspruch von Journalismus aufgegeben. Ob Peter Handke tatsächlich historische Tatsachen leugnet, hat in der jüngsten Debatte um den Heine-Preis niemand gefragt. Lieber gibt man ihm gleich einen Geniebonus.“ Darum verlieren die Feuilletons Einfluss aufs Publikum, meint Chervel. „Aber bei den Institutionen bleibt ihr Einfluss bestehen.“ So erklärt sich Chervel auch, dass die FAZ den Perlentaucher in dem Moment scharf angriff, als er von der Bundeskulturstiftung Subventionen für das englischsprachige Magazin signandsight.com bekam.

Nicht immer sind Kampagnen dieser Art jedoch erfolgreich. Die Rechtschreibreform ist das prominenteste Beispiel, an deren Rücknahme sich der Verbund vergebens abarbeitete. Oftmals reicht jedoch das Fehlen gegenseitiger Kritik aus, die spürbare Beißhemmung gegenüber den anderen Medien, um eine ausgewogene öffentliche Meinungsbildung zu erschweren. Investigativjournalist Hans Leyendecker, der nach Meinungsverschiedenheiten mit Stefan Aust und der Kündigung beim Spiegel nun für die Süddeutsche Zeitung arbeitet, beobachtet die Allianz „der jungen Wichtigen“ zwischen Springer und Spiegel mit Sorge. Die Folgen habe man zuletzt bei der geplanten Übernahme von ProSieben und Sat.1 durch Spinger erleben können: „Arschzahme Geschichten im Spiegel, aus Rücksichtnahme“, sagt Leyendecker.

Den Feuilletonisten Frank Schirrmacher jedoch, den er privat sehr schätzt, unter anderem weil er dessen Vorliebe für Gottfried Benn teile, sieht er nicht als Gefahr. „Er ist ein wunderbarer Paradiesvogel in dem Zirkus.“ Man müsse froh sein, wenn er gemeinsam mit Spiegel-Chefredakteur Aust Interviews führe, wie etwa bei der DVD-Reihe „100 Jahre Deutschland“, dann stelle wenigstens einer interessante Fragen.

Mit dem Fall der Mauer, dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin und der Etablierung dessen, was gerne Talkshowrepublik genannt wird, sind Projektionsflächen wie die Figur Schirrmacher unersetzlich geworden. Figuren, die Themen nicht erfinden, sondern ihnen einen griffigen Namen geben, sie mit der nötigen Dramatisierung unterfüttern und dadurch aus den geschlossenen Zirkeln der Feuilletons hinaustragen auf die Talkshowbühne. Schirrmacher gibt den Themen Dringlichkeit.

Wie gut sich die Dramaturgie seiner Bücher eignet, um deren Themen der Öffentlichkeit anzutragen, zeigen auch seine Lesungen vor Publikum. Als Schirrmacher im Mai bei einer Aufzeichnung für NDR Kultur las, kokettierte er damit, dass der NDR auf die „etwas dramatischeren“ Passagen in seinem Buch gedrungen habe, wahrscheinlich auch deshalb, weil man die Hörer am Radio halten wolle.

Schirrmacher schätzt die Macht des Boulevards, dieser großen Unterhaltungs- und Skandalmaschine. Und er nutzt sie, nicht zuletzt für sein eigenes Image. „Unter all den Medienmächtigen“, so erklärt Peoplejournalist Paul Sahner den Erfolg und die Wirkung Schirrmachers, sei er der volksnächste. „Als Herausgeber einer der wichtigsten Zeitungen ist er ein ganz normaler Mensch geblieben.“ Frankie-Boy, wie man ihn unter Freunden nenne.

Paul Sahner selbst gehört zum kollegialen Freundeskreis, nicht zuletzt ein Resultat der Aufgeschlossenheit von Schirrmacher gegenüber Klatsch- und Promijournalimus. „Er unterscheidet zwischen Profis und Nichtprofis, er hat keinen Dünkel“, sagt Sahner. Unter Profis verbringt man denn auch gemeinsame Grillabende auf dem Land, wo Sahner ein Bauernhäuschen besitzt, und philosophiert stundenlang, über Literatur und über die jüngere Geschichte, oft über Hitler. Unter kollegialen Freunden sieht man sich, wenn Schirrmacher in München sei, im Münchener Lokal „Schumann’s“, gerne auch mit Alexander Gorkow, erzählt Sahner.

„Schumann’s“, „Borchardt“ und all die anderen Orte der Medienrepublik sind es, ohne die jene tragenden Netzwerke nicht denkbar wären. Vom George-Bund zum Sahner-Kreis ist es nur auf den ersten Blick ein seltsamer Schritt. Tatsächlich ist er nur zeitgemäß. Nicht nur die Zeitungskrise 2002 hat aus ökonomischen Gründen die einst konkurrierenden Verlagshäuser näher zusammenrücken lassen. Auch der Bedeutungsverlust von ideologischen Positionen hat den Bedarf an einer unterhaltenden Aufwertung der Themen forciert.

Und es ist Frank Schirrmacher, der mit dem Nimbus der FAZ meisterhaft auf allen Boulevards spazieren geht. So war es im Fall seines ersten Bestsellers „Methusalem-Komplott“, in dem er alarmistisch gegen die Diskriminierung des Alters in einer demografisch veränderten Gesellschaft trommelte – zu einem Zeitpunkt, als das Thema bereits gut zwei Jahre die Debatten- und Kulturteile der Medien beschäftigt hatte. Und so ist es in „Minimum“, der „Fortsetzung“, wie er sein aktuelles Buch bezeichnet, in dem er alle momentan ohnehin debattierten Themen – Kinderlosigkeit, Familienpolitik und Integration – im Bewusstsein hält. „Es hätte schlimmer kommen können“, meint ein Feuilletonist lapidar, man müsse sich nur die jüngste Welle von Deutschland- und Nationalbewusstseinsbüchern ansehen.

Wohl gemeinte Ratschläge, sein Buch vom „Minimum“ nicht in der Bild-Zeitung vorabdrucken zu lassen, schlägt Schirrmacher aus. Zu wichtig ist mittlerweile das Massenpublikum, als dass er es missachten könnte. Eine Haltung, die bisweilen auch direkt auf die FAZ Einfluss hat, wenn etwa in den Wochen vor Schirrmachers Auftritt in der Gesprächssendung „Beckmann“ keine Zeile und schon gar keine kritische über die ARD-Sendung zu lesen ist. Obwohl er immer wieder und insbesondere vor seinen Redakteuren betont, dass das Alleinstellungsmerkmal der stiftungsgetragenen FAZ ihre Unabhängigkeit von Unternehmen oder Parteien sei, von Schirrmacher bleibt sie abhängig.

Für seine gesellschaftlich relevante Leistung erhält Schirrmacher 2004 die „Goldene Feder“ des Heinrich-Bauer-Verlags und den „Corine-Sachbuch-Preis“ für sein „Methusalem-Komplott“. Im Dezember des gleichen Jahres wird der Themensetzer von der Branchenzeitschrift Medium-Magazin zum Journalisten des Jahres gewählt, nicht ohne die süffisante Anerkennung seiner „meisterhaften Vermarktungsstrategie des Themas und der eigenen Person“.

Als guten Journalisten und Blattmacher, als originellen Krachmacher sehen ihn in der Tat auch andere – deren Respekt ihm, dem kleinen George, eigentlich wichtig sein müsste. Die wie Kurt Scheel, Mitherausgeber der „Zeitschrift für europäisches Denken“, Merkur, in dem etwas gelasseneren bürgerlichen Berlin-Charlottenburg residieren, in einem Altbau mit knarzenden Dielen und einem Berliner Zimmer mit einem großen, runden Tisch für Gesprächsabende mit ausgewählten Teilnehmern – ohne Kameras. „Schirrmacher ist ja nicht dumm“, sagt Scheel, „aber er schreibt Bücher unter seinem Niveau.“ Hysterischen Quatsch.

Scheel findet ein schönes Bild für seinen Unmut angesichts der verhassten so genannten Debattenkultur: „Aus Luft wird heißer Föhn.“ Dabei betont er: „Aus Schirrmacher hätte ein Intellektueller werden können“, er habe sich jedoch für die „Machtmaschine Zeitung“ entschieden. „Und dort füllt er die Rolle gut aus, die er spielt. Eigentlich“, so Scheels Fantasie, „eigentlich ist es doch höchste Zeit, dass sich Dieter Wedel in einem Fernsehmehrteiler oder Helmut Dietl in einer Serie um den Stoff Schirrmacher kümmert.“ Ein „Kir Royal“-Follow-up in Berlin/Frankfurt. Baby Frankie-Boy.

Hamburg, Mitte Mai 2006. Die Tische im Deutschen Schauspielhaus sind alle abgeklappert. Frankie-Boy ist in seinem Element. Nun steigt mit ausgewählten Gesprächspartnern die Verweildauer. Ulrich Wickert, Noch-„Tagesthemen“-Moderator, Autor und Lebemann. Matthias Matussek. Zwischendurch Moritz von Uslar, 100-Fragen-Interview-Erfinder und jetzt Literat. Ab und zu hört man ein „Hey, geil!“. So darf man sich auch das ausgiebig zelebrierte Berliner Partyleben vorstellen, bei dem lange Zeit die Literaturagentur „Eggers & Landwehr“ mit Regie führte.

So darf man sich Schirrmacher auf der Berliner Bühne vorstellen, der Cornelia Pieper, der ehemaligen FDP-Generalsekretärin, schon mal in ebendiesen Männer-Small-Talks glauben machte, dass seine neue Sekretärin Traudl Junge wirklich gute Arbeit leiste. Und es ist Cornelia Pieper, die nicht über den Namen der Sekretärin Adolf Hitlers stolpert – einer der winzigen Coups.

Als noch einmal Zeit ist für das Buffet, läuft Frank Schirrmacher von einem Ende zum anderen des Raumes. Unentschlossen. Kein schlechter Moment, um sich nach der Gesprächsanfrage zu erkundigen. Wo, wenn nicht hier, beim Branchentreff. Sein Blick wird sofort ernst, das Lächeln verschwindet. Davon wisse er nichts, er werde sehen, ob er Zeit habe, aber eigentlich habe er wenig Zeit.

Gleich am folgenden Montag meldet sich die Sekretärin Monika Stützel. Ob man die Mail noch einmal schicken könne, ein Versehen, manchmal würden Dinge gelöscht, aber das passiere selten. Man werde sich melden. Gleich morgen. Selbstverständlich gilt ihr unter anderem Schirrmachers Danksagung in „Minimum“, für die „organisatorische Unterstützung“.

Drei Tage später übermittelt die Sekretärin des Frank Schirrmacher die Absage, bis auf weiteres, aus rein terminlichen Gründen. Frank Schirrmacher hat viel zu tun.

SUSANNE LANG, 29, Germanistin, ist Redakteurin im Gesellschafts- und Kulturressort taz zwei und lebt in Berlin JULIANE PIEPER, 30, die Illustratorin dieses Porträts, studiert Kommunikationsdesign und lebt in Berlin