Seine Beine sind sehr lang

SOMMERFEST Im Brecht-Haus in der Chausseestraße feiert man stimmungsvoll zum Andenken an seinen Namenspatron

Brecht liegt unter seinesgleichen begraben auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof nebenan

VON RENÉ HAMANN

Die Betreffzeile lautete: „Brecht war Boxfan. Er wäre gekommen.“ Fußballfan war der Arbeiterklassendichter, Dramatiker, Schriftsteller Bertolt Brecht aus Augsburg nie. Was vermutlich hauptsächlich der Zeit geschuldet war: Fußball war bis in die Fünfzigerjahre hinein längst nicht so populär wie beispielsweise Boxen. Beim Dichten hingegen ging es noch sehr stark um Politik. Um die Existenzen. Um Beweise. Um alles.

Brecht wäre also gekommen, er hätte auf das WM-Achtelfinalspiel zwischen Uruguay und Südkorea gepfiffen und hätte sich stattdessen in den Garten und durch die Stockwerke seines eigenen Gedenkhauses bewegt. Das Brechthaus in der Chausseestraße feierte Sommerfest. Das Wetter war riesig. Die Stimmung gut. Im Brecht-Archiv, also oben im zweiten Stockwerk, gab es eine kleine Ausstellung, die sich mit den Parallelen zwischen dem Werk Brechts und dem des französischen Skandaldichters François Villon aus dem 15. Jahrhundert und beider Werk mit dem des zeitgenössischen Folksängers Bob Dylan beschäftigte. Wichtigste Punkte hierbei: Villon und Dylan benutzten Künstlernamen, Brecht nicht. Villon-Übertragungen von Dehmel bekam der sehr junge Brecht zu Weihnachten geschenkt. Er eiferte Villon in manchem nach; er plagiierte sogar einige Gedichte. Rechtsstreitigkeiten gab es keine.

Das Archiv ist erstaunlich klein; das Treppenhaus erstaunlich weiß und schmal. Ich folgte der Hand, die fotokopiert an der Wand hing und den Weg wies. Außer mir betrachteten leicht deformierte Frauen in Sandalen die Glaskästen mit den Erstexemplaren der „Hauspostille“ etc., während schnaufende Herren sich noch durchs Treppenhaus mühten. Draußen schien immer noch die Sonne. Es gab Mineralwasser umsonst. Im Keller lockte ein Restaurant mit Surschnitzel und Erdäpfelschmarrn für 13 Euro 50. Hatte Brecht jemals ein Fußballspiel gesehen? Würde er es wirklich vorziehen, dieses etwas magere Sommerfest zu besuchen, statt ein aufregendes Achtelfinalspiel zu betrachten? Wo lag überhaupt der Mehrwert dieser Geschichte?

Bowie als BBC-Baal

Einen Mehrwert braucht diese Geschichte nicht, es handelte sich ja um ein Sommerfest. In einem kleinen Raum mit zwei modischen Bürostühlen und einem Fernsehgerät liefen Dokumentarfilme. In einer Produktion der BBC von 1981, „Baal“, tauchte plötzlich David Bowie auf. In der Hauptrolle. Brecht muss unter Popstars mal als schick gegolten haben. Erstaunlich war, wie überhaupt nicht fehlplatziert Bowie hier wirkte, sondern wie genau richtig. Wie er es schaffte, dem etwas muffig und steif wirkenden Stück seine Aura, seinen Glanz, seine außerirdische Ausstrahlung zu verpassen und damit nach vorn zu bringen. David Bowie sang dann einen Song, den Brecht von Villon geliehen hatte. Der Kreis schloss sich. Wer brauchte da noch Bob Dylan?

Das Rahmenprogramm des Sommerfestes, dies sei der Vollständigkeit halber geschrieben, umfasste auch einen Vortrag Patrik Ramponis über Brechts Einfluss auf Dylan, einige Sonderführungen durch die Wohnungen, und die Vorführung eines Films über die Ostberliner Boheme der Fünfzigerjahre. Gewisper, Gepocher.

Eine Führung gab es auch über den Dorotheenstädtischen Friedhof, der praktischerweise gleich nebenan lag. Ich machte mich zunächst auf eigene Faust auf, und das Erste, was ich fand, war wie immer das Grab Heiner Müllers. Eine Zigarre aus Stahl. Mit Steinchen. Ich grüßte Heinrich Mann, Johannes R. Becher, Hegel, Fichte und die anderen; machte meine Aufwartung bei Wolfgang Hilbig. Die alles entscheidende Frage aber war: Wo liegt eigentlich Thomas Brasch? Die Führerin konnte es mir nicht sagen, sie war beschäftigt. Das Grab von Brecht sieht übrigens aus, als ob er zwei Meter lange Beine gehabt hätte. Andere mussten mit zusammengezogenen Knien begraben werden.

Find mir das Grab von Thomas Brasch: Der jung gestorbene Dichter und Dramatiker, ein später Gegen-Brecht, liegt ebenfalls hier. Sein Grab aber war eine Enttäuschung: leicht ungepflegt, struppig und mit einem nach oller Gymnasiastenkunst aussehendem Grabstein. Ruhe er trotzdem in Frieden.

Später, nach dem ersten Spiel, saß ich vor einer Straßenpizzeria. Ein Schwarm Vespas surrte vorbei, und der Großbildfernseher zeigte eine Kochshow. Ich erinnerte mich an das Brecht-Weigel-Haus in Buckow, das als Gedenkstätte auch recht mickrig gewirkt hatte. Vielleicht wäre Bertolt Brecht das alles auch sehr recht gewesen so. Gekommen wäre er, da bin ich sicher, trotzdem nicht. Fußball hin oder her.