: Heimtückischer Angriff mit der M-Bombe
Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Das überaus erfolgreiche Rettet-die-Gasse-Attentat
Erinnert sich noch jemand an diese wabbeligen Plastik-Milchschläuche aus der Prä-Tetrapak-Ära, bei denen man immer Angst haben musste, dass sie auf dem Heimtransport platzen und den kompletten Einkauf mit einem Liter Vollmilch überschwemmen könnten? Wenn es gut ging, leckten die Dinger nur ein wenig und verteilten einen dünnen Milchfilm im Inneren der Einkaufstasche. Hatte man sie heil nach Hause gebracht, steckte man sie in einen eigens für sie gedachten Plastikbehälter, schnitt eine Ecke ab und konnte so die Milch bequem ausgießen. Warum diese Milchschläuche irgendwann aus den Kühlregalen verschwunden sind? Vielleicht habe ich dazu meinen Teil beigetragen …
Ich wohnte damals, in den Milchschlauch-gesättigten Achtzigern, in einer engen Gasse der Altstadt, im vierten Stock eines Altbaus. Die Gasse war so schmal, dass sie nur als Durchgang für Fußgänger gedacht war. Aber auch wieder so breit, dass sie angesichts der Parkplatzknappheit meistens als Parkplatz zweckentfremdet wurde. Vor allem Geschäftsleute, die kurz in eines der umliegenden Büros wollten, parkten ihren Wagen an der meiner Wohnung gegenüberliegenden Hauswand, so dass auch noch genügend Platz für die Fußgänger vorhanden war. Niemand war glücklich mit dieser Situation, aber was sollte man machen, irgendwo mussten die Blechkisten ja hin, und man duldete die Autos in der Gasse. Ich parkte dort manchmal schließlich selbst.
Eines Tages aber, ich kam mit Einkaufstüten schwer bepackt nach Hause, war die Grenze zur Zumutbarkeit überschritten. Statt wie üblich auf der anderen Seite zu parken, hatte ein dreister Autofahrer seinen BMW unmittelbar vor meiner Haustür abgestellt, der Zugang zum Haus war von dem ganz dicht an der Hausmauer stehenden Auto praktisch versperrt. Ich fluchte und quetschte mich ohne Rücksicht auf Lackschäden zwischen Blech und Mauer zur Haustür durch. Was dachte sich dieser rücksichtslose Schnösel eigentlich, mit seiner Protzkarre vor einem Hauseingang zu parken? Sicher war das ein Kunde von der Wirtschaftskanzlei im Haus gegenüber. Der musste bei dieser knappen Rangiererei doch gesehen haben, dass da eine Tür war!
Beim Aufstieg in den vierten Stock sann ich auf Rache. Ihm würde ich einen solchen Denkzettel verpassen, dass er nie wieder seinen Wagen derart gedankenlos vor anderer Leute Haustür parken würde. Oben angekommen, war der Entschluss gefasst, nur die Wahl der Mittel war mir noch unklar. Beim Auspacken der Einkäufe und Einräumen in den Kühlschrank war die Sache klar: Wie wäre es, einen schönen, dicken, prall gefüllten Milchschlauch auf das Autodach des Missetäters plumpsen zu lassen? Es wäre großartig!
Über die eventuellen Folgen meines Milchbombenabwurfs machte ich mir damals keine großen Gedanken. Die Angst vor einer Anzeige wegen Sachbeschädigung wurde mühelos überdeckt von der Aussicht auf die vollständige Befriedigung meiner Rachegelüste. In meinem Fall war Rache nicht Blutwurst, sondern Vollmilch. Ich durfte mich bei der Durchführung meines Plans nur nicht erwischen lassen.
Ich bewaffnete mich also mit dem gerade erstandenen Milchschlauch der Firma Deller – nomen est omen! Ab welcher Fallhöhe würde die Milchbombe wohl eine Delle auf dem Autodach hinterlassen? Vom vierten Stock aus sicherlich. Ich entschied mich aber für einen Mittelstreckenabwurf aus dem zweiten Stock, schlich möglichst geräuschlos das Treppenhaus hinunter und öffnete das Fenster. Direkt unter mir schimmerte das makellos schwarze Autodach des BMWs. Ich wartete, bis alle Passanten die Gasse verlassen hatten, vergewisserte mich noch einmal, dass mich kein Nachbar beobachtete und brachte meine M-Bombe in Abwurfposition. Dann ließ ich sie fallen und beugte mich sofort aus dem Fenster um ihre verheerende Wirkung zu beobachten. Ein dumpfer Schlag, ein Knall, eine weiße Milchfontäne. Mir war ein Volltreffer geglückt. Auf dem Autodach lag der geplatzte Plastikschlauch inmitten einer Lache aus bester Alpenvollmilch, die Scheiben und die Motorhaube waren über und über mit Milch bespritzt. Haustür und Hauswand sicherlich auch, aber das waren zu vernachlässigende Kollateralschäden. Zum Glück war niemand während des Abwurfs in die Gasse eingebogen, niemand hatte mich im Treppenhaus überrascht. Ich warf noch einen genüsslichen Blick auf mein Werk, schloss das Fenster und ging zufrieden in meine Wohnung hoch.
In der Küche setzte ich mir zur Belohnung einen Kaffee auf und malte mir in höchster Schadenfreude aus, wie wohl der Besitzer des Wagens bei seiner Rückkehr auf das Bombardement reagieren würde. Wie er entgeistert seinen Wagen auf Schäden untersuchen, wie er mit spitzen Fingern den Milchschlauch vom Autodach fischen, wie er leiden würde. Aber auch ich musste leiden, denn als der Kaffee fertig war, fiel mir auf, was mir jetzt fehlte: die Milch. RÜDIGER KIND