: Eine Hochschule legt los
MUIK & RAUM „La Betulia Liberata“, die Inszenierung eines Oratoriums aus Mozarts Teenie-Tagen im Bremer Dom, hat historische Dimensionen
Mit „La Betulia Liberata“ hat sich die Hochschule für Künste (HfK) des kostbarsten Bremer Innenraums bemächtigt: des Doms. Ein Gebäude mit akustischen Eigenarten, um nicht zu sagen: Heimtücken – das jedoch gerade durch seine schiere Dimension und vielfältigen räumlichen Binnengliederungen, die für Hall und akustische Ungleichzeitigkeit sorgen, ein fantastischer Inszenierungsort ist. Wegen des Rauswurfs von Kresniks „Zehn Geboten“ – und abgesehen von diversem Weihnachtlichem – ist „Betulia“ das vermutlich erste theatrale Großereignis im Dom seit den letzten katholischen Mysterienspielen. Also seit mindestens 449 Jahren.
Immerhin handelt es sich um ein Mozart-Oratorium, seinem einzigen, also einen alttestamentarischen Stoff: Die Israeliten werden in der Bergfeste Betulia belagert, Judith rettet ihr Volk, indem sie den feindlichen Feldherrn Holofernes im Schlaf enthauptet. Die HfK-Studierenden haben Kostüme und Ausstattungen entworfen, die in ihrer Morphologie an tierhaft archaische Welten erinnern. Der Ostchor ist in einen Wald verwandelt, die Kirchenbänken stehen verstreut umher – selten hat man den Dom so kreativ aufgemischt erlebt.
Eine Woche vor der Premiere sagte der Domchor ab, der Kammerchor der HfK sprang ein – wenn in einer Hochschule die Kräfte gebündelt werden, sind die Kapazitäten enorm. Eine historische Lücke innerhalb des HfK-Gefüges wird bei „Betulia“ gleichwohl sichtbar: Das Fehlen eines Fachbereichs Theater. Wenigstens einen Lehrstuhl für szenische Gestaltung zu haben gehörte lange zu den Dauerdesideraten. Mit Gregor Horres ist die Lücke seit einem Jahr geschlossen. Doch um das spröde „Betulia“-Libretto mit Dramatik zu durchtränken, hätte es sowohl einer intensiveren Ausgestaltung der einzelnen Rollen als auch einer variantenreicheren Gesamtdramaturgie bedurft.
Die sängerischen Leistungen der studentischen Solisten sind naturgemäß heterogen, einige herausragend: Jan Hübner als Ozia, der Betulia von einer Hebebühne herab regiert, singt einen beeindruckend geschmeidigen Koloraturtenor, Ji-hye Oh ist als Amital eine stimmlich ausgereifte Aufrührerin. Das ebenfalls aus HfK-Ressourcen rekrutierte Orchester spielt hervorragend – Thomas Albert, in vielfältigen Funktionen zwischen Hochschule und Musikfest bekannt, ist hier als präziser und energievoll gestaltender Dirigent zu erleben.
Nicht zuletzt zählt die Innenwirkung eines solches Projekts: Die Bereiche Musik und Kunst mit ihren institutionell jeweils eigene historische Wurzeln und getrennten Hauptquartieren fanden in „Betulia“ zu einer lustvollen Gesamtleistung zusammen. HENNING BLEYL