: Ruhm und Regenrekord
Wie Heiligendamm und Jörg Kachelmann einmal die Nation betrogen
In Heiligendamm ist alles gut. Hier hat der Kapitalismus gesiegt, zeigt sein schönstes Gesicht. „Kempinski Grand Hotel Heiligendamm“ heißt es und ist ein Gebäudeensemble, das so weiß ist, weißer geht’s nicht. Zumindest nicht, wenn man ein Haus ist.
Mal eben für die in Geschichte nicht so Bewanderten: Heiligendamm war Deutschlands erstes Seebad. Vom Herzog Friedrich Franz I. 1793 gegründet. Tolle klassizistische Gebäude direkt an der Ostsee, alles weiß, dufte Erholung. Die Deppenbonzen aus der DDR haben das ganze Schöne total runtergerockt. Nichts da mit Erhalt deutscher Kultur. Das Proletariat ham se in die Häuser gelassen. Hautekzeme wurden im „Sanatorium für Werktätige“ behandelt, und die Studenten von der benachbarten Kunstakademie haben Löcher ins Parkett gebohrt und durch ihre Seifenkistenrennen Grasnarben in das satte Grün gefräst. Dann aber war das zum Glück alles vorbei, Investoren haben die Häuser gekauft, 50 Millionen Euro öffentliche Gelder bekommen und dat Janze wieder hübsch gemacht. Jetzt ist ein Zaun drum rum, und alles ist ein Hotel.
Als die Welt in Heiligendamm noch nicht so schön war, gab es hier eine Jörg-Kachelmann-Wetterstation: Eine jener Messeinrichtungen, die eine Gemeinde kaufen kann, und dann kommt sie ins Fernsehen. Also zahlt die Gemeinde eine gewisse Summe, nehmen wir an 15.000 Euro, und anschließend kommt der Kachelmann, macht das Ding im Garten fest und stellt die neue Wetterstation Millionen TV-Deutschen in seiner ARD-Messsendung „Wer hat am meisten?“ vor.
Jetzt nämlich kann man die Sonnenstunden messen und den Wind und den Niederschlag und das dann abends im Fernsehen angucken. Seit das schöne Haus Kempinski heißt, ist die Station nun leider abgeschaltet.
Der junge Mann, dessen Geschichte hier erzählt werden soll, vermutet, dass die monatlichen Betriebskosten der Grund dafür sind. Der junge Mann, nennen wir ihn Guido, arbeitet schon lange auf dem Gelände, das jetzt „Kempinski“ heißt. Weil das, bevor der Kapitalismus überall Zäune gezogen hat, ziemlich langweilig war und Ruhm und Aufmerksamkeit immer nur woanders stattfanden, hingen sein Kumpel und er mal wieder ohne Perspektive und Aufgaben, vielleicht sogar ohne Werte, an ihrer Wurstbude rum. „’n Bräter, ’ne Limo und Nadine-gib-noch-mal-Ketchup!“ – und die beiden waren irgendwo zwischen Verzweiflung und Man-muss-doch-mal-was-machen-Laune.
Der Regen pladderte aufs morsche Dach, Tropfen fielen Guido in den Halsausschnitt seines Bundeswehrparkas. Noch ’ne Limo, und die Gedanken wurden langsam lustig.
Irgendwie landeten unsere beiden Freunde beim Kachelmännchen und der Wetterstation. Sie laberten so herum über Sinn und Unsinn von so ’nem Wasserstandsanzeiger, und drei Gedankengänge später war der Tag nicht mehr sinn- und nutzlos, das Wetter nicht mehr nicht zu gebrauchen. Sie wussten, was sie zu tun hätten, um es Deutschland wenigstens einmal zu zeigen! Mit einem Plastikbecher bewaffnet schlichen die beiden zur Heiligendammer Außenstation des Kachelmann’schen Erfassungsnetzes und ließen mit ruhiger Hand mehr und mehr Nass in den Messkolben rinnen. Am Abend war es dann so weit: Vor dem Fernseher verfolgten sie, wie Heiligendamm, die weiße Stadt am Meer, weit mehr Niederschlag als alle anderen deutschen Orte zu melden hat. Mit einer schier unglaublichen Menge hat Heiligendamm sich an die Spitze geregnet. Auch das Kachelmännchen war euphorisiert: „Das ist Tagesrekord!“LIZZY VON HACHT