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Archiv-Artikel

Die Illusion des Authentischen

FOTOGRAFIE Zwei Ausstellungen mit Fotos von Hans-Jürgen Raabe und Jim Rakete in Istanbul und Berlin zeigen jeweils die Suche nach einem Phänomen: dem Gesicht

Während Rakete noch soziale Bezüge einfließen lässt, abstrahiert Raabe gänzlich von diesem Kontext. Beide Künstler fokussieren sich auf das Gesicht. Als ob es sich dabei um eine unhintergehbare Zentralinstanz handelte

VON INGO AREND

Sein wahres Gesicht. Wer möchte das einmal zeigen. Fragt sich nur: Existiert es überhaupt – noch? Von den Internet-Selfies über die Schönheitschirurgie bis zur Gesichtsanimationssoftware „Image Metrics“. So wie eine scheinbar anthropologische Konstante zur virtuellen Größe mutiert, könnte man Michel Foucaults Diktum aus dem Jahr 1966 fast umdrehen. Der französische Philosoph hatte damals prophezeit, das Subjekt werde verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Doch vor dem Individuum scheint erst einmal das Gesicht zu verschwinden – hinter seinen medialen Abbildern.

Jim Raketes Bilder lassen sich vielleicht nicht unbedingt als Beleg für diesen gefürchteten Paradigmenwechsel heranziehen. Denn die Porträts des 1951 geborenen Kultfotografen verdanken sich eher einer sozialen Erfahrung. Doch etwas Ähnliches steht auch hinter den Porträts junger Menschen aus Istanbul, die er vorvergangenes Jahr in der Bosporus-Metropole gemacht hat. „Face & Future“, der Titel der kleinen Ausstellung, die derzeit in Berlin zu sehen ist, lässt sich durchaus als Programm verstehen.

In erster Linie sind Raketes Bilder ein Tribut an die „Generation Gezi“. Sie zeigen nämlich Gesichter der Jugendlichen, die im letzten Sommer für ein paar Monate um die Welt gingen. Aufgenommen hat er sie schon vor den Unruhen. Im Sommer 2012 war der Fotograf Stipendiat in der deutschen Villa Tarabya am Bosporus.

Das Erlebnis eines Landes, in dem fast 70 Prozent der Bevölkerung unter 35 Jahren alt sind, ließ ihm keine Ruhe. Mit den Fotos der lachenden Frau mit Ohrringen, der lächelnden Muslima mit Schleier im Bus und des jungen Mannes mit gestreiftem Hemd will Rakete sagen: Es sind die unverfälschten Gesichter, die uns die Zukunft eines Landes zeigen.

Filzkappe und Schleier

Normalität ist das Stichwort bei Hans-Jürgen Raabe. Auch er war am Bosporus, hat sich aber nicht vom Ausnahmezustand inspirieren lassen. Sondern von gewöhnlichen Menschen im Alltag: ein skeptischer junger Mann mit iPhone, auf die Bank einer Fähre gelümmelt, ein alter Mann mit Filzkappe, der ein Buch liest, eine junge Frau mit violettem Schleier trägt eine Sonnenbrille. Jedes der Gesichter, die derzeit in dem kleinen neuen Istanbuler Fotografie Museum zu sehen sind, das ausgerechnet der konservative Stadtteil Fatih zusammen mit einer privaten Fotografengruppe eröffnet hat, scheint zu sagen: Ich bin ich. Und sonst erst einmal nichts.

Die 33 Aufnahmen vom Bosporus sind Teil eines wahrhaft enzyklopädischen Projekts. Dafür hat nämlich Raabe Aufnahmen nicht nur in Istanbul gemacht, sondern auf der ganzen Welt. 2011 begann er in Myanmar. Es folgten Lourdes, das Münchener Oktoberfest, Marrakesch, die 5th Avenue in New York, das Kassel der 13. Documenta, der Eiffelturm in Paris und Berlin mit dem Brandenburger Tor. Auf 33 Stationen soll seine fotografische Recherche nach dem Bild des zeitgenössischen Menschen wachsen. Von jeder Station wählt er 33 Bilder aus. Macht zusammen „990 Faces“ – der Titel der Ausstellung.

Mit der Ausstellung erfüllt sich der Verleger, Journalist und Unternehmer den Jugendwunsch, Künstler zu sein. Und dem nach langer Pause wiedergeborenen Fotografen gelingen dabei durchaus intime Momente humaner Präsenz. Immer hat man das Gefühl, einem bestimmten Menschen ins Auge zu sehen, keinen Typen oder Stellvertretern. Widerspruchsfrei verwirklicht er sein Motto „Schau an, was dich anschaut“ aber nicht.

Wenn es Raabe allein um das Gesicht gegangen wäre, hätte er die Konvolute nicht nach den Orten ordnen müssen, an denen sie entstanden. So signalisieren sie eine geografische und soziale Signifikanz, die sie nicht haben (sollen). Dafür sind die Porträtierten wie die Orte zu zufällig ausgewählt. Und für das „Menschenbild einer Epoche“, als die sie verkauft werden, spiegelt sich in diesen Gesichtern zu wenig von deren Umbrüchen. Geschweige denn von den Zumutungen einer beschleunigten Welt.

Raabe lässt sich von der fixen Idee verführen, Bilder jenseits von Action, Suspense und Täuschung zu liefern. Projekthaft, wie er arbeitet, ist er nah an August Sander oder Walker Evans. Herausgekommen ist leider nur eine matte Mischung aus beiden. Weder inszenieren die Abgebildeten ihren sozialen Charakter – wie in Sanders 600-Bilder-Projekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Noch inventarisiert Raabe einen sozialen Kosmos wie Evans das Elend der Farmer im amerikanischen Süden zu Beginn der dreißiger Jahre.

Während Rakete hier und da noch soziale Bezüge einfließen lässt: eine Werkstatt, ein Café, die Fußgängerzone, abstrahiert Raabe gänzlich von diesem Kontext. Beide Künstler fokussieren sich auf das Gesicht. Als ob es sich dabei um eine unhintergehbare Zentralinstanz handelte.

„Wir leben in einer facialen Gesellschaft, die ununterbrochen Gesichter produziert“, konstatierte der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho vor ein paar Jahren. Es mag verlockend sein, dieser Schwemmflut der inszenierten und manipulierten Gesichter etwas entgegenzusetzen.

Doch wer dafür auf das zurückgreift, was er für das unverstellte Gesicht hält, verfehlt das „Perpetuum mobile der Masken“ und die „Natur in einer gesellschaftlichen Praxis“ (Hans Belting), das es eben auch ist. Wer nicht auch dieser Wahrheit des Gesichts fotografisch auf die Schliche kommen will, nährt nur die Illusion des Authentischen.

■ Bis 12. März, Istanbul Fotografie Museum, Katalog, 98 Euro; bis 13. Juni, Projektzentrum der Stiftung Mercator, Berlin