: Große Freiheit für die Polizei
ACHTUNG, ACHTUNG! Die Polizei der Hansestadt gibt sich das Recht, in vier Stadtteilen Menschen ohne konkreten Verdacht zu kontrollieren. Linkspartei kündigt Klage an
CHRISTIANE SCHNEIDER (LINKSPARTEI)
AUS HAMBURG KAI VON APPEN
Sie kommen gleich mit mehreren „Wannen“. An Treffpunkten des autonomes Spektrums im Schanzenviertel springen Polizeibeamte aus ihren Mannschaftswagen und kesseln schwarz gekleidete Personen ein. Auch Passanten, die die Kontrolle beobachten, werden ins Visier genommen. Diese Szenerie wiederholt sich am Samstagabend mehrfach in Hamburg. Eine Stunde später – ebenfalls im Schanzenviertel – fahren gleich elf Polizeiwannen auf. 13 Personen werden eingekesselt und kontrolliert.
Die Polizei der Hansestadt hat sich an diesem Wochenende weitreichende Kontrollrechte gegönnt. Große Teile der westlichen inneren City wurden ab Samstagmorgen und auf unbestimmte Zeit zum „Gefahrengebiet“ erklärt. In der gleich vier Stadtteile umfassenden Zone mit rund 82.000 Einwohnern kann die Polizei nun Menschen kontrollieren, auch wenn kein konkreter Verdacht gegen sie vorliegt. Damit will sie drei ihrer Revierwachen in den Stadtteilen St. Pauli, Schanzenviertel und Altona vor Angriffen zu schützen.
Die Maßnahme ist der bisherige Höhepunkt einer seit zehn Tagen laufenden medialen Kampagne um Gewalt gegen Polizisten, die offensichtlich alle Diskussionen über das Fehlverhalten der Polizei bei der Demonstration zum Erhalt des autonomen Zentrums Rote Flora am 21. Dezember überdecken soll. Vor zwei Wochen hatte ein starkes Polizeiaufgebot die 7.500 Demonstranten wenige Meter nach dem Start mit fadenscheiniger Begründung gewaltsam „aufgestoppt“, sodass es zu massiven Ausschreitungen gekommen war. Schon zuvor war die Stimmung gereizt, nicht zuletzt wegen der Flüchtlingspolitik des SPD-Senats. So hatten am 12. Dezember Teilnehmer einer Spontandemo das berüchtigte Polizeirevier in der Schanze mit Steinen angegriffen.
Der eigentliche Auslöser der Gewaltdebatte ist jedoch ein Angriff vom vergangenen Wochenende auf Beamte der Davidwache, bei der ein Polizist einen Kieferbruch erlitten haben soll. In der autonomen Szene wird dieser Vorfall mit äußerster Distanz verfolgt, weil er nicht für sinnvoll gehalten wird.
„Hinter der bewusst falschen Darstellung stehen augenscheinlich politische Interessen der Polizeiführung und ihrer Gewerkschaften, wie zusätzliche Stellen, eine bessere Bezahlung, eine „Aufrüstung“ der Polizei und aktuell die Einrichtung eines unbefristeten Gefahrengebiets in einem nie da gewesenen Ausmaß“, sagte am Sonntag der Hamburger Szene-Anwalt Andreas Beuth der taz.
Seit Samstagmittag kontrollierten rund 300 Polizisten die großflächige Region nach „relevanten Personengruppen“. Schon am Morgen patrouillierten Mannschaftswagen. Die 120 Teilnehmer einer Demo vor dem Untersuchungsgefängnis, bei der auch Feuerwerkskörper flogen, ließ die Polizei gewähren.
Überprüft wurden laut Polizei vor allem verdächtige und polizeibekannte Menschen. „In dem Gefahrengebiet sind insgesamt 263 Personen überprüft worden“, berichtet Hamburgs Polizeisprecherin Sandra Levgrün am Sonntag der taz. „Es wurden die Identitäten festgestellt und mitgeführte Sachen in Augenschein genommen.“ Dabei seien „pyrotechnische Gegenstände“ und „Vermummungsmaterial“ sichergestellt worden. 62 Personen erhielten ein Aufenthaltsverbot für das komplette acht Hektar große Gefahrengebiet. Eine Maßnahme, die das Hamburgische Verwaltungsgericht 2012 für rechtswidrig erklärte – zumindest wenn die Personen in der Region wohnen.
Die Polizei beruft sich auf einen umstritten Paragrafen, der 2005 vom CDU-Senat und dem damaligen vom Rechtspopulisten Ronald Schill angeheuerte Innensenator Udo Nagel eingeführt worden war (siehe links). Ob der gesamte Passus rechtwidrig ist – also auch die verdachtsunabhängigen Personenkontrollen nach Outfit – ist zurzeit Gegenstand einer Klage vor dem Oberverwaltungsgericht.
Die Linkspartei hat nun eine weitere Klage gegen das aktuelle Gefahrengebiet angekündigt. „Es gibt de facto keine Kontrolle der Polizei. In Sachen Gefahrengebiet entscheidet die Polizei, und nur sie“, sagte die Innenpolitikerin Christiane Schneider. Auch ihre Kollegin Antje Möller (Grüne) verurteilt die Maßnahme. Sie stelle Tausende unter „Generalverdacht“. Gerade wegen der willkürlichen Größe des Gebiets müsse die Verhältnismäßigkeit dringend überprüft werden. Nur die SPD -Mehrheitsfraktion hält alles für sinnvoll. „Wir unterstützen ausdrücklich, dass die Polizei den rechtlichen Rahmen konsequent ausschöpft, um neuen Übergriffen präventiv entgegenzuwirken“, sagte ihr Innenpolitiker Arno Münster.
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