: Der Sturz
ABGANG Angela Merkel und Michael Schumacher haben gezeigt: Das Hinfallen ist eine deutsche Tugend. Wichtiger Anlass, schwerwiegende Folgen, prominentes Opfer und ein großartiges Gemisch aus Tragik und Perfidie
VON ULI HANNEMANN
Nicht ganz klar ist, inwieweit der Prager Fenstersturz 1618 überhaupt als anständiger Sturz bezeichnet werden kann. Zum einen, da Böhmen als gemischtsprachiger Teil Habsburgs nur bedingt zum deutschen Raum gezählt wurde, und zum anderen, da der Fenstersturz an sich eine reichlich unsaubere Nebenform eines guten deutschen Sturzes darstellt. Aber er ist nun mal einer der berühmtesten seiner Art.
Während Kaiser Barbarossas vermuteter Sturz vom Pferd in den Fluss Saleph 1190 mit anschließendem Ersaufen ebenfalls nur mit sehr viel gutem Willen in die Kategorie „Sturz“ einzuordnen ist, gibt es am berühmten Sturz des Frankfurter Stürmers Bernd Hölzenbein im Finale der Fußballweltmeisterschaft 1974 gegen die Niederlande nichts zu rütteln. Die ungeschriebene Definition, dass ein anerkannter Sturz im Haus, öffentlichen Straßenland, auf dem Sportplatz, politischen Parkett, der Skipiste oder der Eisbahn mit zugleich nicht mehr als bis zu 21,3 Zentimeter (Schlittschuhe, High Heels) starken Hilfsmitteln unter den Füßen erfolgen darf, ist hier voll erfüllt.
Und nicht nur das, es handelt sich um einen geradezu vorbildlichen deutschen Sturz: wichtiger Anlass, schwerwiegende Folgen, prominentes Sturzopfer und ein großartiges Gemisch aus Tragik und Perfidie – siehe Freiherr von und zu Guttenberg. Auch die Choreografie ist wie gemalt. Wie ein mächtiger Adler breitet Hölzenbein die Schwingen aus, nachdem er die sich unendlich in die Luft verlängernde Fußspitze seines Gegenspielers Wim Jansen zu verspüren ahnt, und hebt ab aus seinem Horst, der der holländische Strafraum ist: Elfmeter und Endsieg Deutschland.
Warum sich für derlei Vorgänge die seitdem auch ins Niederländische eingegangene Formulierung „Schwalbe“ etabliert hat, ist angesichts der Erhabenheit des Flugs allerdings kaum zu erklären. Die Landung erfolgt unverletzt – die physische Versehrung ist auch keine immanente Bedingung eines guten deutschen Sturzes.
Angela Merkel hat die Anforderungen diesbezüglich weit übererfüllt. Ihr Anbruch des Beckenrings auf einer Schweizer Loipe infolge eines Sturzes „bei langsamer Geschwindigkeit“ – Regierungssprecher Steffen Seibert – ist zwar aller Ehren wert, doch wäre so viel Leid nicht nötig gewesen. Nun wird ihr erwarteter Kniefall vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos aus Verletzungsgründen hinfällig und damit auch die geplante Reise in die polnische Hauptstadt.
Noch mehr überzogen hat ihr ebenfalls auf Skiern verunglückter Landsmann, der ehemalige Formel-I-Weltmeister Michael Schumacher. In seinem Fall wurde der Kopf in Mitleidenschaft gezogen und einmal mehr die bereits sattsam aus den Ergebnisspalten der Sportseiten gezogene Erkenntnis bestätigt: Das Skifahren sollte man besser den Österreichern und Schweizern überlassen.
Zu den Reaktionen auf Schumachers Unfall lässt sich sagen: Autorennen als Sport zu bezeichnen, ist angesichts der körperlichen Anforderungen angebracht. Ob das so langweilig anzusehen ist, dass man allein vom bloßen Zuschauen ins Koma fällt: Geschmackssache. Ob das so umweltfeindlich ist, wie die Sportjagd auf aussterbende Tiere: Tatsache. Dass, wenn man das Ganze schon als Sport sieht, er während seiner aktiven Karriere jedem Sportfan oder Hobbysportler mit einem Rest an Herz und Hirn als ausgesprochen unfairer Sportsmann galt: Ehrensache. Doch darüber, dass er in Deutschland keine Steuern zahlt, möchte ich erst an dem hoffentlich nicht allzu fernen Tag richten, an dem ich selbst so viel verdiene, dass ich Steuern zahlen muss.
Das Unverständnis darüber, dass sein Sturz so lange die komplette erste Hälfte der Hauptnachrichten beherrschte, bis er vorübergehend vom Sturz seiner Schwester im Geiste abgelöst wurde, obwohl zeitgleich weit Unschuldigere massenhaft mit wenig Presse und viel Sprengstoff in die Luft gejagt wurden, lässt sich nachvollziehen. Die Häme und die unverhohlenen Verschlechterungswünsche, die Schumacher vielerorten nun entgegenschlagen, dagegen weniger. Denn er ist sicher ein A…, ein Ar…, ein arg unangenehmer Zeitgenosse, aber kein mordender Diktator oder selbstherrlicher und korrupter Fifa-Chef. Ich wünsche ihm gute Besserung und mir, dass ich in Zukunft von jeder weiteren Topmeldung über diesen armen Tropf verschont bleiben möge.
Eine große Rolle spielt gewiss die Schadenfreude. Es ist kein Zufall, dass sie als Lehnwort in zahlreichen anderen Sprachen auftritt, denn sie scheint ein exklusiver Bestandteil des deutschen Charakters zu sein. Die deutsche Schadenfreude ist untrennbar mit dem deutschen Sturz verbunden und längst genetisch sowohl in Gut als auch in Böse tief verankert. Die Guten sehen einen Mitbürger auf dem Blitzeis ausrutschen, schmunzeln kurz und eilen dann besorgt zu Hilfe.
Die Mittleren lachen darüber, dass die Helfer nunmehr auf den frisch Gestürzten fallen, wünschen Arjen Robben eine gelbe Karte und Bernd Hölzenbein einen unberechtigten Elfmeter.
Die Bösen wünschen Michael Schumacher und Angela Merkel den Tod.
Oft sind es nur Nuancen, die entscheiden. Was immer gleich ist und bleiben wird: Der Deutsche stürzt, der Deutsche lacht.