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Archiv-Artikel

Die Sache mit den Schlüsseln

Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: „Chicago“ und das tollkühne Attentat auf ein Rathaus

Die Sache ist verjährt. Sie liegt mehr als 30 Jahre zurück. Außerdem war ich nur bedingt zurechnungsfähig. So viel vorweg. Ich war damals Student und hatte einen Nebenjob: Ich arbeitete am Fließband in einer kleinen Speiseölfirma im vornehmen Berliner Stadtteil Zehlendorf. Es war ein Ein-Mann-Fließband: An einem Ende stellte ich einen leeren Blechbehälter aufs Band, joggte zur Abfüllanlage und drückte auf den Knopf. Während sich der Fünf-Liter-Behälter mit Erdnussöl füllte, verkorkte ich den bereits vollen Kanister, stellte ihn auf eine Palette und rannte wieder ans andere Ende des Fließbands.

Am Freitagabend gab es den Lohn, obwohl Kilometergeld lukrativer gewesen wäre. Ein paar Biere hatte ich mir aber verdient. Das Kilroy, benannt nach jener legendären Figur, die erstmals im Zweiten Weltkrieg in den USA als Graffiti auftauchte, war eine gemütliche Kneipe in Wilmersdorf. Um zehn Uhr kam mein Freund Achim von der Spätschicht hinzu. Auch er hatte seine Lohntüte dabei.

Um eins signalisierte uns der Wirt, wir mögen austrinken und nach Hause gehen. Wir missdeuteten das Zeichen und glaubten, er biete uns in Anbetracht unserer nicht unerheblichen Zeche ein Freigetränk an. Wir bedankten uns artig. „Kommt morgen wieder, Jungs, dann gebe ich einen aus“, wollte er uns abwimmeln. Wir starrten ihn schweigend an, und er lenkte ein: „Okay, wir würfeln.“ Er setzte sich mit drei Würfelbechern und einer Flasche Wodka an unseren Tisch. Wir spielten „Chicago“, bis die Flasche leer war.

Draußen ging die Sonne auf, und die Vögel quietschten. Wir machten uns auf den Heimweg. Ich hatte es eigentlich nicht weit, eine Viertelstunde Fußweg vielleicht, doch unterwegs überkam mich die Müdigkeit. Ich lehnte mich an eine Haustür. Sie ging auf. Im Hausflur standen, wie bei einem Fahrkartenschalter, ein Schreibtisch und ein Bürostuhl in einem gläsernen Kasten. Ich schmachtete den Stuhl an, aber die Glastür hatte außen keine Klinke. Doch die kleine Sprechluke stand offen. Ich schob meinen Arm hindurch, drückte die Klinke von innen herunter und ruhte mich zunächst eine Weile auf dem Bürostuhl aus.

Was dann geschah, ist bis heute nicht geklärt. Jedenfalls wachte ich am Nachmittag in meinem Bett auf und entdeckte auf dem Nachttisch einen braunen Papierkorb, der mir völlig unbekannt war. Obenauf lag eine Milchglasglocke, die Standardlampenhaube für Berliner Hausflure. Ich betrachtete das Ensemble überrascht und nahm die Glocke aus dem Papierkorb. Das hätte ich nicht tun sollen. Der Korb war nämlich keineswegs leer. Zunächst fand ich zwei Dutzend Namensschildchen vom stillen Portier, der Tafel mit den Namen und Gebäudeteilen, die es in den Hausfluren von Altbauten üblicherweise gab. Aber schlimmer noch: Im Papierkorb lagen Schlüssel – jede Menge Schlüssel, mindestens 70 Stück.

Offenbar war ich in der Nacht trotz alkoholbedingter Behinderung noch zu allerlei Aktivitäten fähig gewesen. An die Glasglocke konnte ich nur herangekommen sein, indem ich auf den wackligen Bürostuhl und den Schreibtisch geklettert war. Was mein Interesse am stillen Portier ausgelöst hatte, war mir nüchtern betrachtet schleierhaft. Jedenfalls muss ich mit dem Papierkorb samt Glasglocke unter dem Arm am helllichten Tag nach Hause gewankt sein.

Die Passanten haben vermutlich gerätselt, warum ein betrunkener junger Mann am frühen Morgen mit diesen Utensilien unterwegs war. Ich rätselte ebenfalls, nachdem ich aus dem Koma erwacht war.

Ich entsorgte den Papierkorb, die Glasglocke und den stillen Portier, aber die Schlüssel? Die konnte man nicht einfach wegwerfen, bestimmt würde sie jemand vermissen. Ich rief meinen Trinkkumpanen Achim an, der es entgegen meinen Vermutungen problemlos nach Hause geschafft hatte. Ob ich das Haus wiederfinden würde, fragte er. Mit Sicherheit, antwortete ich – es sei denn, mehrere Häuser auf der Strecke zwischen Kilroy und Wohnung hätten Glaskästen mit Schreibtisch und Bürostuhl, einen leeren stillen Portier und eine Hausflurlampe ohne Glasglocke. Das erschien unwahrscheinlich. Wir packten die Schlüssel in eine Plastiktüte und suchten die Häuser ab. Beim dritten Haus hatten wir Erfolg.

Als ich den Tatort betrachtete, bekam ich einen Flashback und wollte schleunigst weg. Ich hängte die Tüte mit den Schlüsseln einfach außen an die Haustür. Am nächsten Tag stand in der B.Z.: „Die Schlüssel des Rathauses Wilmersdorf sind wieder aufgetaucht. Sie hingen in einer Plastiktüte an der Türklinke. Die Polizei glaubt nicht, dass es sich bei den Tätern um Terroristen handelt. Sicherheitshalber sollen aber die Türschlösser des Rathauses ausgetauscht werden.“ RALF SOTSCHECK