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Archiv-Artikel

Am Knochen der Geschichte nagen

Verführung auf brasilianisch, das geht auch in Zürich. Denn dort entsteht mit Daros-Latinamerica eine große Sammlung lateinamerikanischer Kunst, die zurzeit drei brasilianische Künstler vorstellt. Auch in Rio de Janeiro investiert Daros in Künstlerateliers, pädagogische Programme und Kulturkontakte

VON MICHAEL NUNGESSER

Wer sich über zeitgenössische Kunst in Lateinamerika informieren möchte, kommt an Daros in Zürich nicht vorbei. Hinter dem Namen verbirgt sich eine Privatsammlung der besonderen Art in Form einer Aktiengesellschaft. Anfangs bildete Gegenwartskunst aus den USA und Europa den Sammelschwerpunkt. Daraus entstand die Daros Collection mit Werken des abstrakten Expressionismus, der Pop und Minimal Art, aber auch von Eva Hesse, Joseph Beuys, Louise Bourgeois, Gerhard Richter und Sigmar Polke. Daros-Latinamerica, 2000 gegründet, umfasst inzwischen rund 1.000 Werke. Sie ermöglichen einen Überblick über die Kunst der letzten zwanzig Jahre in dieser noch immer viel zu wenig beachteten Kunstregion. Fotografie, Installationen und konzeptuelle Kunst stehen im Vordergrund.

Der Direktor und Kurator der Sammlung, Hans-Michael Herzog, hat auf Reisen in die verschiedenen Länder Künstler besucht und Arbeiten ausgewählt, die ihm charakteristisch für das Einzelschaffen der Künstler erscheinen, aber auch für den (kunst-)historischen Kontext. Er kann dabei unabhängig von Marktstrategien und Modewellen agieren. Standort der Sammlung ist das Löwenbräu-Areal in Zürich. Die Werke sind zwar im Depot, doch Ausstellungen geben regelmäßig Einblicke und gehen auf Wanderschaft, zum Beispiel mit Kunst aus Kolumbien („Cantos Cuentos Colombianos“) oder mit bedeutenden Fotografen Lateinamerikas („La Mirada“). Weitere Ausstellungen galten dem Pionier der Kinetischen Kunst, Julio Le Parc, oder Fabián Marcaccio, der mit raumgreifenden Gemälden arbeitet. Zudem tritt Daros-Latinamerica auch häufig als Leihgeber für internationale Ausstellungen auf. Zurzeit richten sie eine umfassende Datenbank für Kunst aus Lateinamerika ein.

Kürzlich hat Daros-Latinamerica in Rio de Janeiro im Stadtteil Botafogo zwischen Copacabana und der Innenstadt ein großes ehemaliges Waisenhaus gekauft, das nach gründlicher Renovierung voraussichtlich Ende 2007 als Casa Daros eröffnet wird. Angekündigt wird gleich ein ganzes Paket an Vorhaben: Mit Wechselausstellungen, Künstlerateliers, einem ausgedehnten pädagogischen Programm und einem Wissenszentrum will man auch innerhalb des lateinamerikanischen Subkontinents die oft spärlichen kulturellen Kontakte zwischen den Ländern zu einem umfassenden Kommunikationsnetz ausbauen. Damit ist ein weiterer Schritt getan, um die Kunst Lateinamerikas als bedeutenden Beitrag zur modernen Kunstgeschichte auszuweisen. Längerfristig ist man bestrebt, sie auch als Teil eines Gesamtstroms zu verstehen und mit der Daros Collection zu verbinden.

Brasilien bildet nicht nur eine Perspektive für zukünftige Aktivitäten, sondern steht auch im Mittelpunkt der neu eröffneten Ausstellung „Seduções“ („Verführungen“), die drei Rauminstallationen der international bekannten brasilianischen Künstler Cildo Meireles, Ernesto Neto und Valeska Soares aus der Sammlung von Daros-Latinamerica vereint. „Seduções“ bildet gleichsam ein in der Schweiz stationiertes Parallelprojekt zu den gegenwärtigen Berliner Ausstellungen im Rahmen von Copa da Cultura. Jeder Künstler bespielt einen Raum mit ganz eigenen, verschiedene Sinne ansprechenden Mitteln im Spannungsfeld von barocken und (neo)konkreten Traditionen.

Cildo Meireles, 1948 in Rio de Janeiro geboren, zeigt seine Installation „Missão/Missões (How to Build Cathedrals)“ von 1987, die seit ihrer Präsentation zwei Jahre später in der Pariser Ausstellung „Les Magiciens de la Terre“ legendär geworden ist. Sie bildet einen sarkastischen Kommentar auf die Rolle von Kirche und Mission in der Geschichte Amerikas. Aus einer mit 600.000 Münzen gefüllten von Steinplatten umsäumten Vertiefung erhebt sich ein schlanker Pfeiler aus 800 Hostien. Er steigt zu einem baldachinartigen, schwer lastenden Himmel auf, gebildet aus 2.000 gelbbraun schimmernden Rinderknochen. Die Münzen knirschen unter den Füßen, wenn man unter diesem Himmel stehen will.

Auch Valeska Soares, 1957 in Belo Horizonte geboren und heute in New York lebend, arbeitet in „Vanishing Point“ mit historischen Bezügen. Mit fünfzehn flachen Stahlwannen zitiert sie die Regelmäßigkeit barocker Gartenlabyrinthe. Gefüllt hat sie Soares mit einer nach Amber duftenden einfarbigen Flüssigkeit. Sie suggeriert Natur und enthemmtes Wohlgefallen, sie betört die Sinne. Doch die Idylle trügt, der Geruch wird bald aufdringlich und streng. Die minimalistische Geometrie der Becken ruft nicht nur die gewünschte Assoziation an industrielle Produktionsformen hervor, sondern auch an den von daher stammenden Abfall. Die verführerische Komponente schlägt um, macht atemlos und betroffen.

Schon der Name der Installation von Ernesto Neto, geboren 1964 in Rio de Janeiro, wirkt spielerisch, lust- und fantasievoll: „Globiobabel nudeliome landmoonaia“. Aus teils mit Sand und Gewürzen gefülltem Strumpfgewebe hat Neto ein begehbares biomorphes Labyrinth geschaffen, in dessen Mitte man auf großen weichen Kissen liegen und entspannen kann. Ohne Schuhwerk betritt man eine transparente Höhle, durchstreift Pfeilergänge, wähnt sich im Innern eines Körpers, der Wärme und Geborgenheit ausstrahlt. Das ist tatsächlich eine Verführung, sich ganz auf das Hier und Jetzt einzulassen und Abstand von der äußeren Welt zu nehmen.

„Seduções“, Daros Exhibitions, Limmatstr. 268 in Zürich, bis 15. Oktober