Ein tödlich verletzter Muslim im elterlichen Garten

Der islamische Glaube ist keine statische Größe, aus der sozial und politisch alles weitere für Muslime abgeleitet werden kann: Mit dieser Erkenntnis tritt Amartya Sen in seinem Buch „Identity and Violance“ dem Bild vom „Clash der Kulturen“ entgegen und sorgt für Aufregung in den USA

Tolerant oder intolerant, friedvoll oder gewalttätig: Angehörige des Islam stehen nicht notwendig auf der einen oder anderen Seite

VON MARCO STAHLHUT

Die Behauptung, bestimmte Völker hätten einen Hang zu Gewalt, weil ihre Biologie es so will, würde fast überall Rassismusalarm auslösen. Anders dagegen, unterstellt man Völkern einen Hang zu Gewalt, weil ihre Religion es so will. Geht es um den Islam, werden Thesen dieser Art in weiten, auch linksliberalen, Kreisen freimütig geäußert. Schon dieses Beispiel zeigt: Das Problem der Beziehung zwischen Identität und Gewalt, das der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in seinem vorerst nur auf Englisch erschienenen Buch „Identity and Violance“ diskutiert, ist eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit.

Auf einen ersten Blick scheint eine intime Beziehung zwischen dem Islam und der Gewalt ja tatsächlich festzustehen – von Anschlagsserien im Irak über Selbstmordattentäter in Palästina, vom World Trade Center in New York über die Anschläge in Madrid und London bis zu Ehrenmorden in Berlin-Neukölln. Die Verbindung von Islam und Gewalt scheint ein Fakt zu sein, der vielleicht erklärt werden, aber keine Behauptung, die noch widerlegt werden kann. Emblematisch steht hierfür der muslimische Selbstmordattentäter. Wir lieben das Leben – sie den Tod.

Aber was steht hier wirklich fest? Genau betrachtet nur: die Taten von Menschen muslimischer Herkunft, die ihre Gewalt im Namen des Islam ausüben, die aber neben ihrer religiösen noch alle möglichen anderen und unterschiedliche Identitätsmerkmale haben, solche der territorialen und sozialen Herkunft, des Geschlechts, der Berufsausbildung, der Staatsbürgerschaft und so weiter. Empirisch betrachtet, ist gerade die Verbindung von Selbstmordattentaten mit dem Islam keineswegs eindeutig. Laut einer Studie des US-Politikwissenschaftlers Robert Pape sind islamistische Gruppen für 34,6 Prozent der Selbstmordattentate verantwortlich, die zwischen 1985 und 2004 durchgeführt wurden. Schlimm genug. Aber eben nur ein Drittel.

Viele Selbstmordanschläge im Irak werden von säkularen sunnitischen Aufständischen verübt. Es war das buddhistisch- shintoistische Japan, das im Zweiten Weltkrieg den Kamikaze-Flieger erfand. Unter den Piloten waren japanische Christen. Eines der politisch folgenreichsten Selbstmordattentate jüngerer Vergangenheit war das einer ethnisch-separatistischen Rebellengruppe: die Ermordung des indischen Premierministers Rajiv Ghandi durch eine Attentäterin der so genannten Tamilen-Tiger, Mai 1991. Diese Bewegung führte, jedenfalls bis vor kurzem, mit über 250 ihr zugeschriebenen Anschlägen auch die Statistik der weltweit verübten Selbstmordanschläge an.

Angesichts der oft schwer zu verstehenden Konfliktlinien, die die Welt durchziehen, scheint die These von einem Kampf zwischen liberalem Westen und repressivem Islam vielleicht nur deswegen so anziehend, weil sie an einer anspruchsvolleren Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fakten vorbeiführt und einer simplifizierenden Weltsicht theoretische Tiefe zu verleihen scheint. So jedenfalls die These von Amartya Sen. Seine Studie „Identity and Violence“ ist ein bewusster Gegenentwurf zum „Clash of Civilisations“ seines Harvard-Kollegen Samuel Huntington – ein ruhiges Plädoyer dagegen, religiös definierte Kulturen zum Schlüsselbegriff der Konflikte dieser Welt zu machen.

Sens Ausgangspunkt ist eine einfache Beobachtung: „Die Welt wird immer häufiger als eine Ansammlung von Religionen (oder von ‚Kulturen‘) gesehen, während die anderen Identitäten, die Menschen haben und wertschätzen, ignoriert werden: darunter soziale Schicht, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral und Politik.“ Identitätsbezüge und Wertvorstellungen von Menschen sind aber faktisch immer vielfältig, so Sen. Belege für die Existenz dieser Vielfalt in der islamisch geprägten Welt sucht Sen in der Geschichte. Der moralische Impetus seines Plädoyers aber wurzelt in persönlichen Erfahrungen während der indisch-pakistanischen Teilung, als das hinduistische Kind Amartya Sen einen von einem Hindu-Mob tödlich verletzten Muslim in den elterlichen Garten taumeln sah.

Wenn Sen gegen gewissenlose Politiker wettert, die den Hass singulärer Identitäten predigen, ist das sympathisch. Der Leser meint aber auch, den melancholischen Duft der Wirkungslosigkeit zu wittern, den idealistische Appelle seit je verströmen. Der Nobelpreisträger schreckt auch nicht vor Aussagen zurück à la: „Muslime haben, wie alle anderen Menschen auf der Welt auch, viele verschiedene Bestrebungen. Und nicht jede dieser Bestrebungen hat unbedingt mit ihrer alleinigen Identität, ein Muslim zu sein, zu tun.“ Binsenweisheiten, die der Leser nur damit entschuldigen kann, dass sie im öffentlichen Diskurs erstaunlich häufig vergessen werden.

Überzeugend ist Sens Argumentation dagegen immer dort, wo er gegen theologisierende Spekulationen über die Gewalttätigkeit von Muslimen auf geschichtliche Fakten verweist. Die Debatte um die wahre Auslegung des Islam erklärt Sen für fruchtlos. Genauso wie es gegenwärtig friedfertige wie gewalttätige Muslime gibt, gab es in der Vergangenheit tolerante wie intolerante muslimische Herrscher oder eher frauenfreundliche oder eher frauenfeindliche Regeln in muslimischen Ländern. Ein frühes Beispiel erstaunlicher religiöser Toleranz war der indisch-muslimische Mogul Akbar, der im 16. Jahrhundert, „als in Europa noch die Scheiterhaufen brannten“ , Religionsfreiheit garantierte. Aber Sen weist auch auf Akbars Urenkel Auranzageb hin, der die nichtmuslimische Bevölkerung Indiens massiv unterdrückte und mit Sondersteuern belegte.

Sen wählt diese Beispiele, um zu zeigen, dass politische und soziale Fragen mit dem muslimischen Glauben nie einfach schon beantwortet waren, selbst nicht in Fällen, bei denen wir davon ausgehen, dass sie eng mit der Religion verbunden sind, wie der Stellung der Geschlechter und der Toleranz gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen. Muslime hatten und haben natürlich Meinungen zu politischen und sozialen Dingen, aber notwendig ziemlich verschiedene, da diese Meinungen sich nicht zwingend aus ihrem muslimischen Glauben ergeben.

Zwei Haupteinwände gegen diese Darstellung sind von amerikanischen Kritikern erhoben worden. Zum einen zeichne Sen den Islam schön und sei insofern naiv. Dieser Einwand beruht auf einer Fehllektüre, denn das Originelle an Sens Argumentation ist gerade, dass er den Islam nicht als notwendig tolerant oder Ähnliches ausweisen möchte. Es geht ihm darum, dass Angehörige dieser Religion beides waren und beides sein können: tolerant wie intolerant, friedvoll wie gewalttätig und so weiter, ohne deswegen aufzuhören, Muslime zu sein. Der zweite Kritikpunkt lautet, Sens Darstellung gehe daran vorbei, dass die historische Zeit seiner Beispiele lange vergangen und muslimische Länder seitdem sozial rigide und religiös intolerant geworden seien. Dagegen steht jedoch nicht nur der sehr gegenwärtige immense Unterschied zwischen dem Leben muslimischer Frauen in türkischen Großstädten und der weiblichen Landbevölkerung in Saudi-Arabien. Eine solche Kritik verfehlt auch den Kern von Sens Argument, den man so zusammenfassen könnte: Wenn soziale Regeln von Muslimen sich historisch deutlich unterschieden haben und weiter geschichtlicher Veränderung unterliegen, dann kann der islamische Glaube nicht als statische Größe aufgefasst werden, aus der für Muslime alles weitere im soziopolitischen Raum folgt. Die Wortführer des Islamismus irren ebenso wie die westlichen Islam-Gegner.

Das ist ein Argument gegen kulturelle Bigotterie, aber auch für eine Gesellschaft, die offensiv zu einer weltlichen Begründung ihrer Werte steht. Sen argumentiert gegen eine Fixierung der westlichen Öffentlichkeit auf religiöse Führer als Repräsentanten von Einwanderergruppen. Und er plädiert vehement dagegen, religiöse Schulen auszuweiten und religiösen Unterricht staatlich zu fördern. Ein solches Vorgehen unterstütze die falsche Annahme, Wertfragen müssten über die religiöse Zugehörigkeit verhandelt werden statt im rationalen Diskurs darüber, wie Menschen ihr Zusammenleben miteinander regeln wollen. Man könnte hinzufügen, dass Kleriker im Zweifelsfall immer sozial konservativer sind als ihre Basis.

Eine wichtige Frage scheint Sens Buch indes offen zu lassen. Es gibt ja islamistische Extremisten, es gibt immer wieder Menschen, die bereit sind, für ihre nationale, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit Gewalt auszuüben. Dass sie einen reduktionistischen Denkfehler begehen, wenn sie die Vielfalt ihrer Bezüge auf eine einzige, stachelbewehrte Identität zusammenschnurren lassen, erklärt nicht die Begeisterung, mit der sie genau das tun. Die von Sen beobachteten Gewaltorgien bei der indisch-pakistanischen Teilung beruhten auch nicht auf einem einfachen Automatismus, bei dem oben die britischen Kolonialherren spalteten und unten Hass und Gewalt herauskamen.

Was sind dann aber die genaueren Bedingungen dafür, dass Menschen sich mit einer ihrer vielen Zugehörigkeiten so total identifizieren, dass sie bereit sind, für diese Identität zu sterben und zu töten? Und was könnte man dagegen tun? Wenn es um Identität und Gewalt geht, scheint diese Frage zentral. Allerdings bleibt sie bei Sen vielleicht auch deswegen weitgehend unadressiert, weil die überzeugendste Antwort auf sie ganz unspektakulär ist – und bereits frustrierend häufig benannt wurde. Wenn mangelnde Bildung, soziale Verzweiflung und gewissenlose Führerfiguren zusammentreffen, droht Unheil.

Wer ihm abhelfen will, muss etwas gegen die Ursachen tun.

Amartya Sen: „Identity and Violence. The Illusion of Destiny“. W. W. Norton & Company. 224 Seiten, ca. 20,90 €