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Archiv-Artikel

„Eher enttäuschend“

GESPRÄCH Die Osteuropa-Experten Heiko Pleines und Mischa Gabowitsch reden über Russland

Von SCHN
Mischa Gabowitsch

■ 36, ist Zeithistoriker, Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum Potsdam und Autor des Buches „Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur“ (Suhrkamp 2013).

taz: Herr Gabowitsch, Wladimir Putin hat Chodorkowski und die Sängerinnen von Pussy Riot begnadigt – was ist da los?

Mischa Gabowitsch: Ach, das war doch eher enttäuschend. 2013 gab es mehrere Vorschläge für ein Amnestie-Gesetz in Russland, unter anderem aus dem Parlament, und herausgekommen ist eine Mini-Amnesie. Die Begnadigungen waren eher wie eine großmütige Geste eines Kaisers.

... angesichts der Olympischen Spiele in Sotschi?

Ja, das kann durchaus damit zusammenhängen. Chodorkowski jedenfalls wäre ohnehin in acht Monaten freigelassen worden.

Bundeskanzlerin Merkel hat Joachim Gauck kritisiert, weil der ohne Rücksprache mit ihr angekündigt hat, die Spiele zu boykottieren. Wovor hat sie Angst?

Merkel hat wahrscheinlich wirtschaftliche Interessen Deutschlands im Blick und fürchtet, dass Putin beleidigt sein könnte. Aber solche Gesten wie die von Gauck werden überbewertet und haben kaum ernstzunehmende Auswirkungen.

Was hätte denn Auswirkungen?

Zum Beispiel: mal in die Provinz zu schauen, auf die Lage der vielen nicht-prominenten Gefangenen in den Lagern – ein korrupter Gefängnisdirektor hat nämlich durchaus Angst, dass Informationen über ihn an die Weltöffentlichkeit geraten könnten.

Aus welchem Grunde werden Menschen in Lagern inhaftiert?

Aus allen möglichen Gründen, die Beteiligung an Demos reicht oft schon aus. Russland hat die drittgrößte Insassen-Population der Welt, sowohl relativ als auch absolut.

Wie kommt es, dass sich Russland nach Gorbatschow in seiner Entwicklung scheinbar wieder rückwärts bewegt hat?

Ein Land ändert sich niemals nur durch den Wechsel an der Spitze. Auch die Art und Weise, wie man sich in Gesellschaft und Politik zueinander verhält, muss sich ändern – und dieses Verhältnis wird in Russland von vielen kleinen Loyalitäts- und Klientelnetzwerken bestimmt. Daran hat sich auch durch Gorbatschow erst einmal nicht sehr viel geändert. Erst langsam scheint sich da etwas zu tun.

Woran erkennt man das?

Zum Beispiel an der riesigen Protestwelle von 2011 bis 2013. Da haben sich viele Menschen zum ersten Mal seit 20 Jahren bereit erklärt, sich mit gänzlich Unbekannten zusammenzuschließen.INTERVIEW: SCHN

19 Uhr, Europapunkt im Haus der Bürgerschaft