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Archiv-Artikel

„Argentinien wagt wieder mehr Staat“

Präsident Néstor Kirchner versucht Staat und Industrie in Argentinien wieder zu stärken. Diese Politik ist richtig – auch wenn die Armen nur langfristig von den ökonomischen Erfolgen profitieren werden, so der Politologe Eduardo Vior

taz: Herr Vior, der argentinische Präsident Néstor Kirchner regiert seit drei Jahren. Wie haben Sie ihn bei seinem Amtsantritt gesehen?

Eduardo Vior: Als Handlanger von Expräsident Eduardo Duhalde. Aber das war ein Irrtum. Seine ersten Maßnahmen zielten auf eine Säuberung des Militärs und eine starke Menschenrechtspolitik. Das war eine Überraschung.

Was machte er wirtschaftspolitisch?

Kirchner hat sich als ein desarollista definiert. Er ist ein Entwicklungsfanatiker und setzt auf die großen argentinischen Industriekonzerne, wie beispielsweise den Stahlkonzern Techint. Und die Regierung Kirchner betreibt eine Reindustrialisierungspolitik. Sie will den Wiederaufbau des Staates, der in den letzten 50 Jahren systematisch zerstört worden ist, und hat angefangen, ihm wieder Befugnisse und Instrumente zu geben.

Ein Satiremagazin machte kürzlich unter argentinischen Wirtschaftsfachleuten eine Umfrage: „Glauben Sie, dass die neue Wirtschaftsministerin Felica Miceli tatsächlich existiert?“ Dahinter steckt, dass Präsident Kirchner alles an sich zieht und sein Kabinett nur der Form halber existiert. Ist da was dran?

Ja, doch. Kirchner hat wenig von einem professionellen Politiker, weil er kaum auf Kompromisse eingeht. Er geht stur seinen Weg. Da kommt der Schweizer in ihm durch. Er kann schon mal einen seiner Minister nachts um drei wecken und ihn in sein Büro rufen. Und man sagt ihm die Mentalität eines Kramladenbesitzers nach, der penibel auf die Ausgaben achtet.

Die Regierung versucht durch Gespräche mit Produzenten und Händlern die Inflation zu bekämpfen. Kann man so effektiv die Inflation verringern?

Das meine ich mit Kramladenbesitzer: Kirchner verhält sich wie jemand, der nach dem Preis von jeder Ware schaut. Und das wirkt. In Argentinien gibt es eine stark verwurzelte Inflationskultur. Wir hatten bis Anfang der 90er-Jahre fast 35 Jahre Inflation. Und wenn man die Unternehmen machen lässt, gibt es früher oder später einen psychologischen Moment, an dem sie allein weil sie die Inflation erwarten, die Preise erhöhen werden – also ohne realen Kostendruck. Sozusagen eine Vorsichtsmaßnahme der Wirtschaftsakteure. Das hat Kirchner radikal gestoppt und die Inflationserwartung gedrosselt. Zehn Prozent Inflation sind mit einem Wirtschaftswachstum von neun Prozent verträglich.

Neuerdings fordert die Regierung die Senkung der Rindfleischpreise. Sie hat sogar einen Exportstopp verhängt, um das Angebot auf dem Binnenmarkt zu erhöhen. Warum?

Beim Rindfleischpreis geht es um einen Machtkampf. Da ist die alte Oligarchie, die es allerdings als zentralen Machtfaktor schon lange nicht mehr gibt. Aber Argentinien ist konservativ und diese Familien unterhalten Beziehungen zu den neuen Unternehmenseliten, hauptsächlich durch eine systematische Heiratspolitik. Schaut man in die Aufsichtsräte auch ausländischer Unternehmen, findet man alle alten Namen. Für die Unternehmen ist das von Vorteil, denn diese alten Familien stellen auch viele Richter und früher auch gute Verbindungen zum Militär. Die alte Oligarchie ist wie ein Bindemittel. Die Regierung will die Vermarktungsstruktur beim Rindfleisch verändern. Das geht gegen die Interessen der alten Eliten. Der Kampf ist noch nicht entschieden.

Kirchner hat mit der Partei „Frente para la Victoria“ seinen eigenen Wahlverein. Braucht er die Peronisten noch?

Die „Frente para la Victoria“ ist nichts anderes als Peronismus mit einigen Parteilosen ohne peronistische Symbole. Das Problem ist: Es gibt eine große Kluft zwischen Kirchners Politik und seiner politischen Basis.

Warum?

In den Armenvierteln ist kaum jemand gegen Kirchner, aber die Leute sind auch nicht begeistert. Denn es gibt nach wir vor eine eklatante Gerechtigkeitslücke in der Gesellschaft. Und das ist für die Peronisten sehr wichtig. Die Menschen erwarten für die Unterstützung von Kirchner von ihren lokalen Chefs konkrete Leistungen. Sie sehen zwar, dass die ökonomische Lage nicht mehr so katastrophal ist, wie sie war, aber konkrete Verbesserungen ihrer Situation lassen auf sich warten. Und sie sehen, dass es den Reichen besser geht, ihnen selbst aber kaum. Die Schere zwischen reich und arm wird eher weiter. Ich weiß nicht, wie sich diese Stimmung entwickeln wird.

Aber der Wiederwahl von Néstor Kirchner 2007 wird trotzdem niemand im Weg stehen – oder?

Ich sehe niemanden. Kirchner hat ein solch weitreichendes Entwicklungsprojekt, das man erst in einigen Jahre die Früchte sehen wird. Ich denke, dass er selbst diese Früchte ernten will. Falls er nicht antritt, dann nur weil der Mercosur ein Präsidentenamt bekommt und er dort Präsident wird. INTERVIEW: JÜRGEN VOGT