: „So gut wie alles ist schiefgelaufen“
HAITI Am 12. Januar 2010 erschütterte ein Erdbeben Haiti. Mehrere Hunderttausend Menschen starben, Haitis Hauptstadt lag in Trümmern. Dann kam die Cholera, von UN-Truppen eingeschleppt. Und heute?
VON HANS-ULRICH DILLMANN
SANTO DOMINGO taz | In Mozayik gab es an diesem Neujahrstag keine Soup Joumou. Mit der Feiertagssuppe aus Kürbis und Rindfleisch begrüßen die Einwohner Haitis traditionell das neue Jahr, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. In der Zeltstadt, die nach dem schweren Erdbeben am 10. Januar 2010 in Canaan, in der Umgebung der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince errichtet worden war, leben keine Menschen mehr.
Am 7. Dezember vertrieben Gemeindepolizisten und Zivilisten, die mit Knüppeln und Macheten bewaffneten waren, die rund 250 Familien. Niemand weiß, wo sie geblieben sind. Alltag für jene Erdbebenopfer, die bisher keine neue Unterkunft gefunden haben. Nach wie vor hausen in den 306 Lagern aus weißem und blauen Plastik rund 172.000 Menschen ohne Perspektive, ein neues Zuhause zu finden, nachdem das Beben vor vier Jahren die Zone rund um Port-au-Prince in eine einzige Trümmerlandschaft verwandelte. Zwischen 250.000 und 300.000 Menschen wurden in den Tod gerissen.
Dazu kam eine Choleraepidemie, die das schon vorher defizitäre Sanitärsystem völlig überforderte. Über 8.000 Menschen starben an der Darminfektion. Die Cholera war Jahrzehnte verschwunden und wurde von infizierten Mitgliedern der UN-Sicherheitstruppe eingeschleppt.
Zwar ist die Mehrzahl der Zeltstädte verschwunden, viele Trümmerberge sind abgetragen, der Eisenschrott ist zur Verhüttung in die USA verschifft oder erneut verbaut worden, erste Wohnsiedlungen sind neu entstanden, alte Häuser sind wieder bewohnbar gemacht worden. Es ist nicht nichts passiert.
Aber auf die Frage, was nach dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 gut und was schlecht gelaufen ist, hat die ehemalige Ministerpräsidentin Michèle Pierre-Louis ein kurze und bündige Antwort: „So gut wie alles ist schiefgelaufen.“ Die 66-Jährige steht mit diesem Urteil nicht allein. Entwicklungshelfer und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen loben zwar die internationale Hilfe, zählen die neuen Siedlungen mit erdbebensicheren Häusern auf, aber die Entwicklung des Landes zeichnen sie trotzdem in düsteren Farben.
Vier verlorene Jahre, sagen viele. Jeder Sturm, und es gab einige in den letzten Jahren, verschärft die Situation. Die Wälder sind abgeholzt, die Erde in dem bergigen Land ist ausgelaugt – die Bauern können sich kaum von ihrer Scholle ernähren.
Wirtschaftlich hat sich im Armenhaus Lateinamerikas seit dem „grollenden Monster“ kaum etwas oder gar nichts geändert. Grundnahrungsmittel sind kaum noch zu bezahlen für rund 80 Prozent der Bevölkerung, die statistisch mit weniger als 2 US-Dollar (1,5 Euro) pro Tag ihren Alltag bewältigen müssen. Ohne die jährlich 2 Milliarden US-Dollar, die Verwandte im Ausland an ihre Familie schicken, könnten die wenigsten Armen überleben.
Viele der zugesagten Hilfsgelder von fast 10 Milliarden US-Dollar sind noch immer nicht ausgezahlt worden, weil die Kontrolle über die Ausgabepraxis der staatlichen Institutionen schwierig ist und Bewilligungen ewig dauern – ohne Korruption läuft nichts.
Auch die Hoffnung auf einen politischen Umschwung hat sich inzwischen verflüchtigt. Er werde alles besser machen, hatte der ehemalige Kompa-Sänger „Sweet Mickey“ Michel Martelly vor den Wahlen im Mai 2011 versprochen. Aber „Tet Kale“, der „Kahlkopf“, wie er auch gerufen wird, zeigte schnell, welch Geistes Kind er ist, als er sich mit Beratern aus dem Umfeld des Duvalier-Clans umgab und aus seiner Nähe zu Mitgliedern der haitianischen Todesschwadrone kein großes Geheimnis mehr machte.