Harmonie mit Hühnerkralle

Wer die echte chinesische Küche erkunden will, sollte vor allem seine Wahrnehmungsfähigkeit schulen. Dann offenbart Dim Sum sein Geheimnis, und glasig gekochte Hühnerfüße werden zum Erlebnis

VON PETRA PRAHL

Ich habe ein Stück Kaiserin mitgenommen. Aufgedunsen und glasig liegt es vor mir, eingehüllt in Zellophan. Es erinnert mich an meine erste Mutprobe in Sachen wahrer chinesischer Küche – jenseits des Süß-sauer-Tellergerichts vom Chinesen an der Ecke. Bestellt hatte ich „Phönixfüße“; hinterher erfuhr ich, dass der chinesische Phönix ein Glückssymbol ist und die Kaiserin symbolisiert. Ich wollte der Lust nach dem Exotischen, dem Andersartigen nachgeben, für das die chinesische Küche berühmt ist, und machte mich daran, zum ersten Mal „Gedämpfte Hühnerkrallen mit Schwarze-Bohnen-Sauce“ zu verspeisen.

Es muss Stunden dauern, bis die zähen Hühnerfüße mit ihrer gerillten Lederhaut so aufgedunsen und ihre Knorpel so weich werden, dass die Chinesen sich an ihnen erfreuen. Viel zu essen geben sie ja nicht her, aber mit der Zeit und etwas Übung ahne ich, dass das Abknabbern der vielen Knöchelchen und Knorpel zu einer fast liebevollen Beschäftigung werden kann, die weit mehr ist als bloße Nahrungsaufnahme. Es kann nicht falsch sein, ein besonders schönes Exemplar in der Handtasche aus dem Restaurant zu schmuggeln, um sich danach unbeobachtet mit ihm richtig vertraut zu machen.

Kein berühmtes chinesisches Gericht kommt aus ohne Geschichten, Sagen oder Legenden über seinen Ursprung. Meist werden die Gerichte in Erinnerung an jemanden gegessen, oft zu einem festen Zeitpunkt im Jahr. Es gibt auch kaum ein Familienfest oder einen offiziellen Feiertag ohne traditionelle Gerichte mit blumigen Namen, die ganze Bräuche oder Segenswünsche beinhalten, wie „Reichtum und gute Taten“, die Kinder-und-Enkel-Teigtaschen oder „Die Perlen zusammenknüpfen und die Jade vereinen“, was auf Hochzeiten gegessen wird.

Als berühmte Gestalt kursiert die alte, pockennarbige Frau Chen durch den Sagenschatz, die Erfindung des „Mapo Tofu“ soll ihr Wohlstand und Reichtum gebracht haben; es ist tatsächlich sehr lecker und findet sich auf fast jeder besseren Speisekarte. Selbst junge Chinesen kennen heute noch die Legende aus dem 15. Jahrhundert vom Tofuverkäufer, der von zwei Unsterblichen die geheime Rezeptur für fermentierten Tofu erhielt. Liegt es am Glauben an die Überlieferung oder an geschicktem Tofu-Marketing, dass es heute in China zwei Marken gibt: „Die Unsterblichen“ und „Die zwei Unsterblichen“?

Früher haben Schriftsteller und Ärzte, nicht Köche die Kochbücher Chinas geschrieben. Ihre oft verblüffend einfache Poesie der Zutaten kennt Namen wie „Drachenauge“ für die Litschiart Longan, „Vertreib-das-Alter-Beeren“ für chinesische Bocksbeeren oder „Kummer, geh fort“ für getrocknete Lilienblüten. In einem weit größeren Maße als wir beweisen die Menschen in China Pragmatismus und Vernunft dem eigenen Körper gegenüber. Weil sie wissen, dass die Verbindung zwischen dem, was wir essen, und unserer Befindlichkeit eng ist, begrüßen sich die Chinesen nicht mit „Wie geht’s?“, sondern mit „Hast du heute schon gegessen?“.

Ein Blick auf die Zeitangaben in chinesischen Rezepten lässt vermuten, dass Chinesen permanent etwas schneiden, einlegen, aufweichen, dämpfen, simmern oder vorgaren, um dann, wenn es zur Sache gehen soll, die Speisen flugs auf den Tisch zu zaubern. In der Schnelligkeit liegt der Erfolg der asiatischen Küche, die Vorbereitungszeit bleibt unsichtbar.

Ausgewählte klassische Spezialitäten wie Haifischflossen, Schwalbennester, Kammmuscheln oder Seegurke sind auch in Deutschland zu haben – zu sündhaft teuren Preisen. Selbst für Chinesen sind diese Dinge kostspielige Raritäten, die eher aus medizinischen denn geschmacklichen Gründen gegessen werden. Schwalbennester sind eine große Rarität und die teuerste Spezialität der chinesischen Küche. Sie bestehen aus dem Speichel von Sturmvögeln (Salanganen) und enthalten viel vorverdautes Eiweiß aus Seetang, kleinen Fischen und Garnelen. Ein Kilo Schwalbennester kostet bis zu tausend Dollar. Eine Suppe daraus ist so proteinhaltig, dass sie älteren Menschen als Tonikum verordnet wird. Im Wissen um die heilende Wirkung bieten in China einige Restaurants auf der Speisekarte spezielle Gerichte gegen körperliche Beschwerden an. Wäre es nicht vorteilhaft, wenn die Menschen auch hier äßen statt zum Arzt zu gehen?

Chinesen haben seit Jahrhunderten eine ausgeprägte Kreativität bei der Suche nach Verwendungsmöglichkeiten von Naturprodukten bewiesen. Sie gingen dabei nicht nur mit Abenteuerlust, sondern auch mit großer Effizienz zu Werk. Das Sprichwort: „Chinesen essen alles, was Beine hat, außer dem Tisch, und alles, was fliegen kann, außer dem Flugzeug“ muss unbedingt ergänzt werden um den Hinweis, dass sie auch so ziemlich alles aus der Pflanzenwelt essen und ihre Zutaten auf dutzende Arten einzusetzen wissen. Beim Bau der Großen Chinesischen Mauer soll Klebreis als Mörtel eingesetzt worden sein. Die heutige Luxusspeise wurde im 15. Jahrhundert als ungesund angesehen. Selbst die unscheinbare Teepflanze wird samt und sonders verwendet, also nicht nur als Tee aufgebrüht, sondern als Gemüse gebraten, geschmort oder eingemacht. Gebratener Rettich in Fischmehl, Wasserspinat, Rinderpansen und Quallen ergeben köstliche, preiswerte Speisen. Sie haben interessante Konsistenzen und Strukturen, die das Erlebnis des Essens um eine weitere Ebene bereichern können.

Mit etwas Schulung kann man auch in einem guten Chinarestaurant in Deutschland einen Einblick in Chinas Küche erhalten. Man muss nur bereit sein, wirklich chinesisch zu essen! Das heißt zuerst einmal, dass es nicht auf die Zutaten ankommt, sondern auf die Kombination (Reis spielt dabei übrigens kaum eine Rolle). Wer chinesisch isst, trainiert als Erstes seine Wahrnehmungsfähigkeit dem Essen und seiner Beschaffenheit gegenüber. Also warum nicht mit Hühnerkrallen anfangen?

Chinesisch essen heißt, sich über Konsistenz, Aroma, Geschmack, Form und Farbe der Gerichte klar zu werden. Für mich bedeutete das, dass ich zum ersten Mal genauer hingeschaut habe, was mir serviert wurde. So erforschte ich die unvergleichliche Anatomie aufgedunsener Hühnerbeine, entdeckte, dass Dim Sum, gefüllte Teigtaschen, wellenartig verziert sind, wenn sie mit Fisch gefüllt sind, und einem Klumpen gleichen, wenn sie Fleisch enthalten. Faszinierend war auch zu sehen, wie manche Gerichte aufgrund der Zubereitung ihren Charakter ändern, so dass Gemüse wie Fisch und Fisch wie Gemüse daherkommt – zum Testen empfehle ich Seegurken und gebratenen Rettich. Das mögen zwar keine originären Entdeckungen im Sinne chinesischer Essenslehre sein, aber sie haben mein Empfinden auf neue Wege geführt.

Ein gutes chinesisches Menü orientiert sich am Prinzip der Ausgewogenheit. Die Zusammenstellung berücksichtigt Kriterien der Beschaffenheit von Fleisch, Fisch, Getreide und Gemüse sowie die Balance zwischen Yin- und Yang-Speisen. Als Anfänger freut man sich, dass stets der Erfahrenste am Tisch die Komposition übernimmt. Bei der Vielzahl der Gerichte versteht sich von selbst, dass so viele Personen wie möglich speisen. Chinesisch essen ist eine Gruppenerfahrung. Das heißt aber auch: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Der Chinese strebt die große Harmonie an und ordnet ihr auch individuelle Vorlieben unter, weil er glaubt, größeren Nutzen zu ziehen, wenn er Teil dieser Harmonie wird.

Eine besondere Probe unserer Harmoniefähigkeit sind die wirklich exotischen Speisen, denen Wunderwirkungen zugeschrieben werden. Wie stehen wir zu Schlangenfleisch oder gallertartigen Bärentatzen? Trinken wir die Bullenpenissuppe? Und wie werden sich Affen- und Fischlippen, Kamelhöcker oder Zikaden auf unseren Wunsch nach Teilhabe an der chinesischen Tafelrunde auswirken? Um sie kennen zu lernen, brauchen wir allerdings die Einladung zu einem chinesischen Staatsbankett. Ein Segen?

PETRA PRAHL, 33, ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin