Gülle zerstört Reetdächer

DÜNGER Pilzbefall gefährdet Reetdächer auf norddeutschen Bauernhäusern. Verstärkt wird er durch Ammoniak in der Luft, den die industrielle Landwirtschaft großflächig freisetzt

■ Hauptlieferanten sind Ungarn, Rumänien, die Türkei und China.

■ Das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege hat Regeln und Empfehlungen für Reetdächer formuliert.

■ Zehn Prozent des in Deutschland eingesetzten Reets stammt aus heimischer Ernte, aus Ostfriesland, Dithmarschen und der Region an Wümme und Weser.

■ Es fällt wegen zu geringer Halmwanddichte nicht selten durch die Zertifizierung, die für denkmalgeschützte Gebäude vorgeschrieben ist. Danach darf der Wassergehalt des Reets im Halm maximal 18 Prozent betragen, es muss auf der Baustelle absolut trocken gelagert werden.

■ Die Dachneigung sollte mindestens 45 Grad betragen, die Neigung von Gauben 36 Grad – je höher die Neigung, umso schneller wird das Dach nach einem Schauer wieder trocken.

■ Hausbesitzer sollten das Reetdach regelmäßig von Moosen, Ästen und Blättern säubern – je nach Standort empfiehlt Sachverständiger Bathel eine Grundreinigung alle zwei bis fünf Jahre.  JOG

AUS BOCKENEM/CELLE JOACHIM GÖRES

Reet zählt zu den ältesten Baustoffen. Bereits 4.000 Jahre vor Christus entstanden am Bodensee die ersten Reetdachhäuser. Sie bestehen aus getrocknetem Schilfrohr. Das enthält sehr viel Silizium, das extrem wasserabweisend wirkt. Reet schützt vor Kälte und Hitze sowie vor Lärm. Ein Reetdach hält im Schnitt 30 bis 40 Jahre. Diese Aussage galt zumindest in der Vergangenheit.

„In Regionen mit intensiver Landwirtschaft stellen wir fest, dass drei Viertel der Reetdächer, die in den letzten 15 Jahren gedeckt wurden, innerhalb von zehn Jahren verrotten“, sagt Professor Gunter Schlechte, Inhaber des Sachverständigen- und Forschungsbüros für Angewandte Mikrobiologie in Bockenem bei Hildesheim. Er beobachtet diese Entwicklung seit sieben Jahren – seitdem wird durch Massentierhaltungsställe oder durch überdüngte Felder in besonderem Umfang lufttransportiertes Ammoniak freigesetzt.

In den von Tiermast geprägten Regionen Vechta und Cloppenburg wies er zum Teil eine zehnfach höhere Stickstoffkonzentration im Dachreet als in anderen Gegenden nach, auch in den Regionen Cuxhaven, Stade sowie im Bremer Raum stellte er ähnlich hohe Belastungen fest. Die Folge: Braun- und Weißfäulepilze verbreiten sich durch das hohe Stickstoffangebot auf den Dächern und führen häufig dazu, dass das Reet aufweicht und zerbröselt. Viele Landstriche vor allem in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wo es die meisten Reetdachhäuser gibt, könnten so auf Dauer ihr typisches Erscheinungsbild verlieren – alleine im Landkreis Cuxhaven stehen laut Schlechte mehr als 1.000 der bundesweit wahrscheinlich über 100.000 Reetdachhäuser.

„Es gibt Hausbesitzer, die wegen der starken Stickstoffbelastung keine Zukunft für ihr Reetdach sehen und deswegen auf ein Hartdach umsteigen“, sagt Schlechte. Das kann teuer werden, denn dafür muss erstmal ein neuer Dachstuhl gebaut werden, weil Ziegel schwerer sind. Andere Betroffene halten an ihrem traditionellen Dach fest und achten bei einer Neueindeckung stärker auf die Reet-Qualität. „Mit Premiumqualitäten hat man auch in belasteten Regionen die Chance, dass das Reetdach 20 Jahre hält“, sagt Schlechte.

Zu einer Diskussion über die Intensivlandwirtschaft und ihre Auswirkungen habe die frühzeitige Verrottung der Reetdächer allerdings nicht geführt: „Es gibt kein Umdenken, das Problem wird durch die starke Landwirtschaftslobby verschleiert. Und die meisten betroffenen Hauseigentümer trauen sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie Angst vor dem Druck durch Landwirte in ihrer Nachbarschaft haben.“

Jürgen Bathel, Sachverständiger der Handwerkskammer Braunschweig-Lüneburg-Stade, hat pro Jahr zehn bis 20 Schadensfälle zu begutachten. „Es gibt immer häufiger Streitfälle wegen gravierender Schäden nach kurzer Zeit“, sagt der Dachdeckermeister aus Drage an der Elbe. Er betont dabei die handwerklichen Mängel bei der Ausführung der Arbeiten. „Die Handwerksordnung wurde verwässert, viele Betriebe haben keinen Meister mehr. Oft fehlen die nötigen Fachkenntnisse“, sagt Bathel. Dennoch bekämen diese Betriebe meist die Aufträge, weil sie ihre Leistungen bis zu 30 Prozent günstiger anböten. „Bei solchen Preisen ist es kein Wunder, dass die Qualität leidet.“

„Hauseigentümer haben Angst vor dem Druck durch Landwirte in ihrer Nachbarschaft“

Gunter Schlechte, Sachverständiger für angewandte Mikrobiologie

So werde etwa vorgeschädigtes Material eingesetzt, das billiger sei als Qualitätsware. Es unterbleibe oft, die richtige Halmlänge- und -härte zum jeweiligen Dach auszuwählen und dabei beispielsweise die Dachneigung zu berücksichtigen – wegen fehlender Kenntnisse und aus Kostengründen. Da die Mängel erst nach einigen Jahren feststellbar seien, bleibe der Kunde nicht selten auf dem Schaden sitzen – wenn der Dachdeckerbetrieb mittlerweile nicht mehr existiere oder nicht in der Lage sei, die Kosten für die Beseitigung zu übernehmen. Dabei geht es meist um Summen zwischen 10.000 und 50.000 Euro.

Brigitte Rössing weiß, dass ein Reetdach besondere Pflege benötigt – sie wohnt in Celle in einem rund 400 Jahre alten niedersächsischen Bauernhaus und lässt das Moos alle zwei, drei Jahre von einem Fachbetrieb vom Dach abklopfen. Nach dem Kauf vor 30 Jahren hat sie die hohen Tannen in unmittelbarer Hausnähe fällen lassen, zudem wurden einige hohe Bäume an der Straße von der Kommune beseitigt. „Seitdem bekommt das Haus und damit auch das Dach mehr Sonne ab und trocknet besser, es gibt auch weniger Moos“, sagt sie.

Von der frühzeitigen Verrottung von Reetdächern ist sie nicht betroffen und kann sich über ihr Reetdach nach wie vor freuen: „Es riecht hier im Sommer schön nach Heu, wenn es ganz trocken ist. Im Sommer ist es in der Wohnung durch das Reetdach und die Lehmwände angenehm kühl, im Winter dagegen warm, wir müssen nur wenig heizen. Das Raumklima ist sehr angenehm. Und bei Sturm braucht man keine Angst zu haben, dass einem ein Ziegelstein auf dem Kopf landet.“