: Erst die Polizei, nun die Justiz
TÜRKEI Der Kampf um den türkischen Rechtsstaat geht in die zweite Runde. Ob ein neues Gesetz Ministerpräsident Erdogan retten kann, bleibt unklar
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Was für ein Rechtsstaat soll das sein, wovon sprecht ihr eigentlich?“, mit dieser Gegenfrage verteidigte der türkische Parlamentspräsident Cemil Cicek am Donnerstag einen Gesetzentwurf der Regierung, dem Kritiker vorwerfen, Ministerpräsident Tayyip Erdogan wolle damit den Rechtsstaat aushebeln. Cicek ist Mitglied der regierenden Partei AKP und war vor einigen Jahren als Justizminister oberster Hüter dieses nun von ihm infrage gestellten Rechtssystems.
Mit der eingebrachten Gesetzesvorlage soll der sogenannte Hohe Rat für Richter und Staatsanwälte, der für die Berufung der wichtigen Posten im Justizapparat zuständig ist, nahezu vollständig unter die Kontrolle des Justizministeriums gebracht werden. Der Vorsitzende des Richterrats nannte diesen Gesetzentwurf gestern „verfassungswidrig“, doch das wird die AKP kaum daran hindern, ihn nun im Schnellverfahren durchs Parlament zu bringen. Die entscheidende Frage ist, ob das Erdogan letztlich retten wird.
Was Mitte Dezember als Korruptionsskandal begann, hat mittlerweile aber in einer wahren Staatskrise die wichtigsten Institutionen des Landes erfasst.
Nachdem am 17. Dezember rund 50 Leute aus der Umgebung von Ministerpräsident Erdogan festgenommen worden waren, denen die Staatsanwaltschaft allen schwere Korruptionsvergehen vorwirft, befindet sich das Land in einem unerklärten „Krieg“, wie einige Beobachter schreiben, allerdings in einem Krieg, der sich innerhalb eines politischen Lagers abspielt.
In den letzten 15 Jahren ging es in der Türkei immer um die Auseinandersetzung zwischen dem religiösen-konservativen Teil der Gesellschaft und dem säkularen-nationalistischen Flügel. Dieser kemalistisch genannte nationale Flügel beruft sich auf Staatsgründer Kemal Atatürk. Derzeit allerdings konzentriert sich der Konflikt auf die beiden Großgruppen innerhalb des islamischen Lagers selbst. Repräsentiert werden diese durch die Regierungspartei AKP auf der einen Seite und der Gülen-Gemeinde auf der anderen. Obwohl es einige weltanschauliche Differenzen zwischen diesen beiden islamischen Lagern gibt, ist es fraglich, ob die in der Auseinandersetzung eine Rolle spielen.
Während die Gemeinde des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen für sich in Anspruch nimmt, sie kämpfe für die Fortsetzung der Demokratisierung der Türkei und gegen die zunehmenden autoritären Tendenzen von Regierungschef Tayyip Erdogan, wirft die AKP der Gülen-Gemeinde vor, sie hätte sich zu einen „Staat im Staate“ entwickelt, eine völlig intransparente Organisation, die ohne jede demokratische Legitimation mittlerweile Teile der Polizei und der Justiz, aber auch der Bildungseinrichtungen, der Medien und der Banken, unter ihre Kontrolle gebracht hätte.
Erdogan hat die Korruptionsvorwürfe, von denen auch die Söhne dreier Minister betroffen sind, von Beginn an als bösartiges Komplott gegen seine Regierung zurückgewiesen. Nachdem er unter dem ersten Druck der Anschuldigungen seine Regierung umbildete, um die betroffenen Minister aus der Schusslinie zu nehmen, ging seine neue Regierung dann unmittelbar zum Angriff über. Polizeichefs und Ermittler, die ihre Vorgesetzten nicht vor den Festnahmen rechtzeitig gewarnt hatten, wurden versetzt oder gefeuert. Seit zwei Wochen säubert der neue Innenminister Efkan Ala, ein enger Vertrauter Erdogans, systematisch die Polizei von Leuten, die er verdächtigt, mit der Gülen- Gemeinde zu sympathisieren. Rund 1.700 Polizisten sind mittlerweile aus ihren Positionen entfernt worden.
Im zweiten Schritt soll nun auch die Justiz unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden. Im Gegensatz zur Polizei ist die Justiz aber gemäß der türkischen Verfassung unabhängig und deshalb nicht so leicht anzugreifen. Cemil Cicek und andere wichtige AKP-Politiker unterstellen deshalb jetzt, dass die Justiz schon längst nur noch auf dem Papier unabhängig ist, in der Realität jedoch durch Anhänger der Gülen-Gemeinde kontrolliert wird.
Tatsächlich steht die Unabhängigkeit der türkischen Justiz seit Jahrzehnten im Wesentlichen auf dem Papier, nur haben zwischenzeitlich die Mächtigen gewechselt. Schon durch Ausbildung und gesellschaftliche Vorauswahl war die Justiz vor allem in ihren höheren Rängen jahrzehntelang kemalistisch dominiert. Entsprechend ihrer politischen Gesinnung hat diese Justiz es immer als eine ihrer genuinen Aufgaben betrachtet, nicht nur Recht zu sprechen, sondern daneben vor allem auch den Staat zu schützen. Dabei ging es insbesondere gegen „kurdische Separatisten“ und Islamisten, die den säkularen Staat infrage stellten.
Seit die AKP 2002 an die Macht kam, sah sie sich von dieser kemalistischen Justiz bedrängt, die tatsächlich noch 2007 ein Verbotsverfahren gegen die damals bereits seit fünf Jahren regierende AKP einleitete.
Mit einem Verfassungsreferendum 2009 gelang es Erdogan dann, die Vormacht der traditionell kemalistisch eingestellten Richter zu brechen und die höheren Ränge der Justiz auch für Leute zu öffnen, die eher dem islamischen Teil der Gesellschaft nahe stehen. Doch das war, wie sich jetzt herausstellt, die Stunde der Gülen-Gemeinde. Kritiker der Gülen-Bewegung werfen ihr seit Langem vor, dass sie schon seit Jahren systematisch versuche, ihre Leute in der Polizei und Justiz zu platzieren. Was bis vor Kurzem auch von der AKP als linke Verschwörungstheorie abgetan wurde, ist jetzt, wo die Regierung sich mit den einstigen Verbündeten überworfen hat, plötzlich auch Erdogans Meinung.
Selbst wenn der Austausch der obersten Justizränge gelingen sollte: ob das Erdogan noch hilft, bleibt offen: „Die AKP“, so sagte ein Insider gegenüber der taz, „hat gar nicht genug loyale Leute, die sie nun in der Justiz und der Polizei platzieren kann. Auch die nachrückende zweite Reihe sind eher Gülen- als AKP-Leute. Und die Gülen-Anhänger haben noch genug Dossiers auf Lager, mit denen sie Erdogan zu Fall bringen können.“