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Archiv-Artikel

Erdogans Chuzpe

NAHOST Die türkische Regierung droht, die Beziehungen zu Israel abzubrechen. Ihr Einsatz im Gaza-Konflikt zeugt von einer bemerkenswerten Doppelmoral

Gökce Yurdakul

■ ist Professorin für Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Studie: „Von Gastarbeitern zu Muslimen. Die Transformation türkischer Migrantenverbände in Deutschland“ (2009, Cambridge Scholars Press).

Auch wenn der israelische Überfall auf die türkische Hilfsflotte längst wieder in den Hintergrund gerückt ist, so gibt es doch noch immer ein Land im Nahen Osten, das „Staatsterrorismus“, wie es Premierminister Erdogan genannt hat, betreibt: das einem Teil seiner Bevölkerung fundamentale Menschenrechte vorenthält, ihre Häuser bombardiert, den Bewohnern Lebensnotwendiges versagt, militante Gläubige unterstützt, Araber verachtet, Kritik im eigenen Land unterdrückt, bei alledem von den USA unterstützt wird und dennoch selbst ein eher starrsinniger Verbündeter der USA geblieben ist.

Die Rede ist hier allerdings nicht von Israel, sondern von der Türkei. Deren Premier Recep Tayyip Erdogan hat die Chuzpe, Israel für die gleichen Vergehen anzuprangern, deren sein eigenes Land selbst schuldig ist. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu droht der Regierung in Jerusalem nun, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, sollte diese sich nicht für die blutige Erstürmung der „Mavi Marmara“ entschuldigen oder eine internationale Untersuchung des Zwischenfalls akzeptieren.

Zwar kann über die törichte, mörderische und rambohafte Vorgehensweise der Israelis gegenüber dem Schiffskonvoi heute kein Zweifel bestehen, kein Zweifel auch über die völlig unakzeptable, weiterhin bestehende Blockade des Gazastreifens. Aber die Türkei täte gut daran, in dieser Sache mehr Zurückhaltung zu üben. Sie hat selbst genug Dreck am Stecken und hat bis heute beispielsweise keine Lösung der Zypernfrage oder des Konflikts mit den Kurden auf die Wege gebracht. Die Türkei unterdrückt noch immer ihre Minderheiten, etwa die anatolischen Griechen, die Roma oder die Jesiden, und hat den Völkermord an den Armeniern noch immer nicht anerkannt. Und was würde wohl passieren, wenn ein humanitärer Hilfskonvoi in die Kurdenregion nach Diyarbakir entsendet würde, dazu unter der Flagge eines fremden Landes?

Die Rolle der Europäer

Während sich Israel aufgrund seiner Siedlungs- und Besatzungspolitik und einer weitgehenden politischen Abhängigkeit von den USA mehr und mehr vom Rest der Welt isoliert, wagt es die Türkei heute, trotz ihrer eigenen Politik der Unterdrückung von Minderheiten, sogar eine Führungsrolle im Nahen Osten zu beanspruchen. Dass die Türkei diese Rolle jetzt reklamiert, war zu erwarten und entbehrt nicht einer gewissen Logik. Durch ihre Handelsinteressen und ihre Nachbarn ist sie an den Nahen Osten gebunden; das Erbe der osmanischen Herrschaft und des Kalifats über Arabien dürfen hier nicht vergessen werden.

Was dabei oft übersehen wird, ist die Rolle der EU: Sie hat nicht nur dazu beigetragen, die Türkei im Innern zu modernisieren, ihr ein neues Selbstbewusstsein zu verleihen und den historischen Kompromiss zwischen Islamismus und säkularem Kemalismus zu befördern. Sie hat die Türkei zugleich auch tief irritiert durch eine widersprüchliche, ambivalente, und zunehmend abweisende Politik in der Frage des EU-Beitritts.

Ambivalenz gegenüber Arabern

Was würde passieren, wenn unter der Flagge eines fremden Landes ein Hilfskonvoi in die Kurdenregion entsendet würde?

Einerseits ist die EU an der Türkei als Markt für Exportgüter und Investitionen interessiert, ihr starkes Militär spielt eine gewichtige Rolle für mögliche Einsätze. Andererseits freilich sieht die EU die Türken nicht als gleichberechtigten Partner an. Vor allem die türkischen Medien und die politische Elite sehen ihr Land von Europa wie eine Kolonie behandelt. So muss nun wiederum Erdogans Umorientierung auf den Nahen Osten und gegen Israel als eine aus Ressentiment geborene Reaktion auf die Politik der EU gesehen werden.

Ein Problem stellt dabei freilich die ethnische Kluft und die wechselseitige Antipathie zwischen Türken und Arabern dar. Es wird deshalb für eine türkische Regierung schwierig sein, tatsächlich die Führung in einem arabisch dominierten Nahen Osten zu übernehmen. In diesem Sinne beinhaltet Erdogans patronisierende Politik gegenüber den Palästinensern ein gewisses Risiko, das nur durch einen islamischen Diskurs vermittelt werden kann. Hier nun kommt die humanitäre Intervention der islamischen, vehement antiisraelischen Hilfsorganisation IHH ins Spiel, die schließlich unter türkischer Flagge lief, und zwar mit Unterstützung und dem Segen von Tayyip Erdogan selbst.

Die Geister, die Erdogan ruft

Diese Beziehung sagt einiges aus über die Gemengelage in der Türkei von heute aus. Vor allem aber sehen wir, dass Palästina hier instrumentalisiert wird, um der EU, aber auch den USA, eine Lektion zu erteilen. Denn es ist offenkundig, dass zumindest in materieller Hinsicht – und auch unter besseren, gewaltlosen Umständen – diese Expedition den Palästinensern in Gaza keine Besserung ihrer Umstände hätte bringen können. Dieses Abenteuer, unter Erdogans Signatur wirkt freilich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen: Erdogans populistische Politik konsolidiert seine Position und hilft, das Land zusammenzuhalten. Freilich ist dies mit einem fulminanten Anstieg des Antisemitismus im Land verbunden.

Zu Erdogans Gunsten muss anerkannt werden, dass er versucht hat, eine scharfe Trennungslinie zwischen Antisemitismus und seiner Kritik an Israel zu ziehen: Seit Jahren schon hat er sich gegen Antisemitismus ausgesprochen. Doch das kümmert die Mehrzahl der Türken wenig: In einem minoritätenfeindlichen Kontext wie den der Türkei wird er die Geister, die er rief, so leicht nicht wieder los.

Michal Bodemann

■ ist Professor für Soziologie an der University of Toronto, er lebt in Kanada und Berlin. Zuletzt erschien von ihm „The New German Jewry and the European Context. The Return of the European Jewish Diaspora“ (London, 2008).

Hier in Deutschland kennen wir Erdogans Chuzpe im kleineren Maßstab, wenn er sich über Diskriminierung türkischer Migranten echauffiert – einer Diskriminierung von Minderheiten, die in der Türkei gang und gäbe ist.

GÖKCE YURDAKUL, MICHAL BODEMANN