: Die Jungens vom Internat Grunewald
Vor dem morgigen Halbfinale gegen Italien will sich die deutsche Mannschaft erholen, entspannen und ablenken. „Weltmeister sind wir schon, jetzt können wir noch Europameister werden“, verkündete der gut gelaunte Co-Trainer Jogi Löw. Manager Bierhoff: „Die Welt hat wieder Angst vor uns“
AUS BERLIN MARKUS VÖLKER
Das Wachstum der deutschen Mannschaft führt nun schon dazu, dass aus dem beflissenen Assistenztrainer Joachim Löw ein erfolgreicher Entertainer wird; in diesen Tagen ist einfach alles möglich. „Weltmeister sind wir vor zwei Tagen geworden, jetzt können wir noch Europameister werden“, sagte er am Sonntag – und der Saal lachte. Nach den Halbfinals sind ja nur noch europäische Mannschaften im Turnier. Das DFB-Team hatte am Freitagabend Argentinien im Elfmeterschießen mit 5:3 geschlagen, am Samstag verabschiedete sich der blasse Weltmeister Brasilien nach der Verlustpartie gegen Frankreich (0:1). Löws EM beginnt am Dienstag mit dem Spiel seiner Elf gegen Italien (21 Uhr). „Das ist auch schon eine Mannschaft von absoluter, hoher Klasse“, sagte Löw.
Der Satz hatte weniger Unterhaltungswert, zugegeben, aber noch niemand ist über Nacht zum Showtalent gereift, mal abgesehen von der deutschen Mannschaft, die sich von Spiel zu Spiel neu erfindet und bald schon Weltmeister werden will, genauer: am kommenden Sonntag in Berlin. Der juxende Jogi stieg dann noch ein weiteres Mal in die Bütt. Er sagte, dass er nichts über die taktischen Kniffe verraten werde, mit denen sie die Italiener überraschen werden: „Sie verraten doch Ihrem Kollegen auch nicht, was Sie morgen schreiben“, sagte er einem Journalisten. Darauf: Jubel, Trubel, Heiterkeit.
Ja, die Stimmung im Lager der 23 Kader ist gut, man verweile im Schlosshotel derzeit „bei positiven Regenerationsmaßnahmen“, wie berichtet wurde, und auch sonst gebe es keine Besorgnis erregenden Neuigkeiten. Selbst die Fifa hat ihre Ermittlungen gegen jene deutschen Kicker eingestellt, die mitgemischt haben sollen im Großrudel, als die Argentinier nach dem Elfmeterschießen von Fußball auf Faustrecht umgeschaltet hatten, als Fäuste flogen und der Ersatzspieler Leandro Cufre den blonden Nationalheiligen Per Mertesacker unsanft besprang, ihn am Oberschenkel verletzte und dann auch noch Mertesackers Weichteile examinierte.
Von dieser Anstrengung erschöpft, wurde erst am Montagnachmittag wieder ernsthaft trainiert. Auch Michael Ballack, Miroslav Klose und der gepiesackte Mertesacker haben ein wenig geübt. Alle drei können am Dienstag spielen, kündigte Löw an. Es gehe in der Vorbereitung auf das Halbfinale nun nicht mehr darum, Reize zu setzen, Standards zu üben, ließ Löw wissen, sondern allenfalls um zielgerichtete Zerstreuung: „Wir können nur noch Dinge tun, die die Spieler etwas ablenken.“
Italien, das ist übrigens jenes Team, das die Deutschen unlängst in Florenz mit 4:1 besiegt, ach was, gedemütigt hatte. Heillos unterlegen waren die Gäste damals im schönen Renaissance-Städtchen. Bundestrainer Jürgen Klinsmann stand hernach im Kreuzfeuer der Kritik. Nicht nur Franz Beckenbauer werkelte an seiner Demission. Der Kalifornier kam ungeschoren davon, weil er den Kugelhagel als wohltuende Massage abtat und einfach weiter marschierte auf seinem WM-Weg. „Wir haben keine Revanchegelüste, wie leben im Hier und Jetzt“, sagte Löw gestern.
Die Lage hat sich seit Florenz gravierend verändert. Die Deutschen haben sich von Klinsi und Jogi im Fußball-Schnellkurs zum Titelaspiranten ausbilden lassen und am Wochenende schon mal das Vordiplom erhalten. Noch zwei Spiele, und sie können das Internat im Grunewald mit „summa cum laude“ verlassen. Aber auch Italien ist noch gut dabei, zumal das Team nach den Turbulenzen in der Liga auf Harmonie macht, Kraft aus der Krise des Vereinsfußballs schöpft. Joachim Löw hat deswegen ein „Wir-Gefühl durch diese Geschichten“ bei der Squadra Azzurra ausgemacht. „Die stehen gut“, sagte er außerdem noch. Und: „Die spielen kompakt aus der Defensive.“ Damit erntete er freilich keine Lacher.
Die Italiener werden noch kompakter stehen als die Argentinier, die sich erst nach 120 Minuten ergeben wollten. Weil der Torsteher Jens Lehmann „wieder zwei weggemacht hat“ (Klinsmann) und das beste Team des Turniers bezwungen wurde, schloss Manager Oliver Bierhoff messerscharf: „Die Welt hat wieder Angst vor uns.“ Gut, dass diese WM in deutschen Landen aufgeführt wird, sonst müsste der Weltsicherheitsrat womöglich alsbald einschreiten, so viel Gefahr geht von den deutschen Schützen und Aggressoren im Mittelfeld aus. Jürgen Klinsmann umschrieb seine Planspiele etwas dezenter. Er sagte schlichtweg: „Die Mannschaft will Weltmeister werden.“ Das hat man irgendwo schon einmal gehört. Man beginnt langsam daran zu glauben.