italienisches eis mit russischem unfall von JOACHIM SCHULZ
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„Was für eine hübsche Fata Morgana!“, denke ich, als ich das dreirädrige Eismobil bemerke. Durch alle Sommer meiner Kindheit ist so ein Eismobil gefahren. Es bestand aus dem Hinterteil eines Fahrrads, auf dem Gianni – der Eismobilbesitzer – saß und das Vehikel mittels Pedalantrieb vorwärts bewegte. Vorne aber befand sich bei Giannis Gefährt statt des Vorderrads ein großer weißer Kasten, der die Aufschrift „Venezia Rapida“ trug und auf zwei seitlich montierten Speichenrädern ruhte. In diesem Kasten war das Eis – der Grund, weshalb wir losrannten, sobald wir Gianni in den Straßen unseres Viertels klingeln hörten.

Längst aber scheint die Zeit der Eismobile vorbei. Bereits vor Jahren dürfte das Letzte seiner Art in der Schrottpresse der Geschichte verschwunden sein, und eben deshalb denke ich, dass meine Fantasie jetzt beginnt, die Realität mit Trugbildern zu verschönern, als ich das Fahrzeug in der Ferne erblicke. Allerdings beschränkt sich diese Halluzination nicht darauf, einfach nur vorhanden zu sein, sie kommt vielmehr langsam die abschüssige Straße heruntergefahren, so dass ich bald erkenne, dass anstelle von Gianni ein strohblonder Mann auf dem Sattel sitzt. „Liebe Fantasie, solche Freiheiten kann ich nicht akzeptieren!“, denke ich, zumal nicht nur Gianni durch einen Blondschopf ausgetauscht, sondern obendrein der Schriftzug „Venezia Rapida“ getilgt und durch eine aufgemalte italienische Fahne ersetzt worden ist.

Wie ich jetzt deutlich hören kann, ruft der Eismobilbetreiber nicht etwa: „Gelati! Gelati! Fragola, Stracciatella, Gianduia!“ oder dergleichen. Stattdessen entfährt dem fluchenden Eismann ein kehliges Konsonantengewitter. „Hm“, denke ich, „ein Italiener, der russisch spricht?“ Das Eismobil rast den Hügel jetzt immer schneller herab, und ein echter Italiener hätte längst „Porca Miseria! Attentione! Attentione! Die Bremsen! Kaputt!“ gerufen. So aber kehlt es weiter aus dem Blonden, und ich verstehe nichts, schreie nur „Haaa!“, stolpere nach links, stolpere nach rechts, während der Eismobilfahrer sein Dreirad offenbar nur noch geradeaus steuern kann. Schließlich reiße ich die Arme hoch, kneife die Augen zusammen und lasse mich einfach zu Boden sinken, als ein Getöse aus Metall und Wind und Kies und Flüchen an mein Ohr dringt. Es scheppert kolossal.

„Madonna, ein Wunder!“, denke ich, als ich ein paar Sekunden später realisiere, dass ich noch lebe. Ich öffne die Augen und sehe, dass das Eismobil bei einem letzten Ausweichversuch umgestürzt ist. Der Fahrer ist gleichfalls unverletzt und blickt untröstlich auf den geborstenen Eisbehälter. Schmelzende Stracciatella fließt die Böschung hinab. Eine Horde von Jungs rennt heran, die, wie früher meine Kumpane und ich, hinter dem Dreirad hergelaufen sein müssen. Auch sie werfen einen verzweifelten Blick auf die Trümmer, dann stellen sie sich im Kreis um mich auf.

„Der da hat Schuld, dass Igor uns nie wieder Eis bringen wird!“, sagt einer von ihnen, und weil ich weiß, dass es völlig sinnlos ist, sich gegen diese Beschuldigung verteidigen zu wollen, mache ich die Augen wieder zu, warte auf meine Strafe und denke: „Igor, ha! Ich hab doch gleich gesagt, dass das kein Italiener ist!“