Und die Fragezeichen heben an zu singen

MASCHINENTHEATER Vom Metropolen-Gründungs-Pathos der Ruhr.2010 hebt sich das im Ruhrgebiet stattfindende Festival „Theater der Welt“ bewusst ab: In seltener Konsequenz setzen die Theatermacher auf so internationale wie sperrige Produktionen. Zum Glück für die Zuschauer

Der ganze Raum ist vermint mit Lautsprechern, eine riesige Soundmaschine. Keine Minute dauert es, und aus dem harmlosen Pfeifen ist ein Orkan geworden

VON REGINE MÜLLER

Am kommenden Sonntag wird im Ruhrgebiet von Duisburg-Rheinhausen bis Dortmund die A 40 auf einer Länge von 60 Kilometern gesperrt sein. Dann reihen sich auf der stauträchtigsten Verkehrsader des Potts über 20.000 Biertische zum „Still-Leben Ruhrschnellweg“. Die Megaparty ist eines der nach Rekorden schielenden Großprojekte des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr.2010. Das Ereignis habe das Potenzial, zum emotionalen Gründungsmoment der Metropole Ruhr zu werden, ließ Ruhr.2010-Chef Fritz Pleitgen bereits vorab feierlich verlauten. Ob’s klappt? Man wird sehen.

Davon träumen die Macher: vom hässlichen, zerklüfteten Ruhrgebietsentlein, das sich zum Schwan einer Kreativwirtschaftsmetropole mausert. Zu dieser gigantischen Standortmarketingkampagne des Kulturhauptstadtjahrs verhält sich mitten im Revier das Festival „Theater der Welt“ bewusst antizyklisch – und das, obwohl es Bestandteil des Kulturhauptstadtjahrs ist! Die Kuratorin Frie Leysen gab in einem Interview trocken zu Protokoll, das Ruhrgebiet sei eben gerade keine Metropole. Sie wolle vielmehr international arbeiten und „andere, härtere Realitäten“ zeigen. Weg von der affirmativen Nabelschau.

Dennoch gibt es auch bei „Theater der Welt“ Projekte mit lokalem Bezug, allerdings mit kritischem Blick auf die Umwälzungen des gepriesenen Strukturwandels. Wie etwa die nächtliche Performance der in Brüssel lebenden Italienerin Anna Rispoli, „A Piece of Land“, die ein städtebauliches Vorzeigeprojekt in Mülheim an der Ruhr kritisch beleuchtete.

Ansonsten bietet „Theater der Welt“ in seltener Konsequenz Spartenübergreifendes, Sperriges, nie Gesehenes. Und nicht zufällig auffallend viel Musiktheater bis hin zur veritablen Oper.

„And All the Questionmarks Started to Sing“ lautet der poetisch-nebulöse Titel der „Komposition für Apparate und Menschen“, die sich das norwegische Künstlerkollektiv Verdensteatret (= Welttheater) ausgedacht und im Essener Pact Zollverein uraufgeführt hat. Am Eingang werden Ohrstöpsel verteilt: „Zwischendurch wird’s mal ein bisschen laut …“, so die Warnung.

Stoff und Federn

Das mag man nicht glauben, denn zunächst bestaunt man in völliger Stille auf der in mystischem Halbdunkel liegenden Bühne eine atemberaubende Installation, einen surrealen Maschinenpark, der an Objekte von Jean Tinguely erinnert: irrwitzige Konstrukte aus mit Stoff und Federn verkleideten Fahrrad-Rädern, ineinander verschlungenen metallenen Gestängen, Gewirr aus undefinierbarem Miniaturgerät, Megafonen und einem einsamem Akkordeon. All das verdrahtet durch einen kolossalen Kabelsalat.

Dann tritt ganz unauffällig ein Mensch auf, fängt leise an, durch die Zähne zu pfeifen, und verstummt wieder. Dann fängt er wieder an, und das Pfeifen schwillt mittels akustischer Kopplungen zum scharfen Sausen. Der ganze Raum ist vermint mit Lautsprechern, eine riesige Soundmaschine. Keine Minute dauert es, und aus dem harmlosen Pfeifen ist ein Orkan geworden.

Man kann diesen Theaterabend kaum nacherzählen, denn die grandiose Mixtur aus Theater, Video, Performance, Installation und Konzert lebt von simultanen Ereignissen auf allen Ebenen, der ganze Apparat funktioniert nach dem Gleichzeitigkeitsprinzip eines Orchesters. Mittels Rechnersteuerung entwickeln die Maschinen ein zappelndes Eigenleben, werden aber auch wie klassische Musikinstrumente von Menschen bedient. Faszinierend.

Überhaupt gibt es bei diesem „Theater der Welt“ richtige Entdeckungen zu machen. Dies zeigt auch eine weitere besondere Produktion: In ein anatomisches Theater hat der südafrikanische Künstler William Kentridge seine Puppentheaterversion von Claudio Monteverdis frühbarocker Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ in der Mülheimer Stadthalle verlegt. Bereits vor mehr als zehn Jahren schuf Kentridge diese seine erste Operninszenierung im Auftrag der damaligen Leiterin des Brüsseler Kunsten-Festival, Frie Leysen. Seitdem ist die legendäre Produktion um die ganze Welt gereist, nun hat Leysen sie sich quasi zurückgeholt.

Tatsächlich ist der Abend noch immer taufrisch und ein Fest reinster Theatermagie. William Kentridge ist unter anderem Animationsfilmer, der mit archaischen Mitteln arbeitet. Jedes einzelne Bild seiner oft tagebuchartigen Clips zeichnet er von Hand mit Kohle oder Pastellfarben. In- und übereinandergeblendet mit suggestiven Videosequenzen, bildet Kentridges Animationsfilm den Hintergrund des halb szenischen Geschehens, im Halbrund des anatomischen Theaters sitzen nur sieben Musiker des Ricercar Consort unter der Leitung von Philippe Pierlot, vorn liegt eine Holzpuppe: der sterbende Ulisse, der sein Leben noch einmal im Traum an sich vorbeiziehen sieht.

Die eigentlichen Protagonisten des Abends sind die mannshohen Stabpuppen der Kapstädter Handspring Puppet Company, bewegt werden sie durch sichtbare Puppenspieler und die exzellenten Sänger, die keinen Kontakt mit dem Publikum aufnehmen, sondern die Puppen ansingen und -spielen. Einem magischen Transformationsprozess gleich zaubert sich aus der hölzernen Künstlichkeit der Puppen eine wundersame Lebendigkeit hervor. Eine Sternstunde.

■ Termine und Infos unter www.theaterderwelt.de