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Archiv-Artikel

Das Gesicht der Niederlage

Das Halbfinal-Aus der deutschen Elf hat vor allem zwei Gründe: einen schwächelnden Kapitän Michael Ballack und einen taktischen Fauxpas von Jürgen Klinsmann

AUS DORTMUND BERND MÜLLENDER

Gleich nach dem Schlusspfiff ließ er sich im Mittelkreis nach hinten plumpsen. Plopp. Saß da gebeugten Körpers und biss auf die Unterlippe. Zuerst kamen die Tränen, dann Olli Kahn, der Stimmungsbeauftragte im Team, und tätschelte seinen Hinterkopf. Andere folgten wie im Defilee, auch Italiener. Einer half Michael Ballack auf. Jürgen Klinsmann nahm ihn wortlos in die Arme. Michael Ballack war das Gesicht der Niederlage.

Die rührenden Szenen hatten, zumal im Mittelkreis, Symbolwert: Jetzt, als alles vorbei war, stand Ballack im Mittelpunkt. Vorher war er auffällig selten beteiligt gewesen. Das Match gegen Italien war nicht das des Michael Ballack gewesen.

Der Kapitän spielte in diesem sensationell intensiven Halbfinale eine groteske Zahl von Fehlpässen. Er suchte manch unabgesichertes unnötiges Dribbling und vertändelte sich dabei mehrfach hoffnungslos. Die Maxime vom schnellen kurzen Direktspiel galt für ihn nur gelegentlich. Ballack spielte mindestens ein halbes Dutzend lässig gemeinter Lupferpässe in die Tiefe, aufreizende Löffler aus dem Fußgelenk nach Art des großen Spielers Franz – alle waren leichte Beute der giftigen italienischen Abwehr. Am engagiertesten wirkten Ballacks beleidigte Gesten nach vermeintlich falschen Schiedsrichterpfiffen.

Ballacks Auftritt war seltsam unentschlossen, tranig, arm an Dynamik. Er weinte, vermutlich auch weil er wusste, dass seine Performance zum Heulen gewesen war. Und Ballack wird auch wissen, dass er maximal ein passables Turnier gespielt hat. Der große Lenker ist er selten gewesen, wie etwa in der 2. Halbzeit des Polen-Spiels. Ecuadors B-Elf war kein Maßstab, beim Euphorie-Spiel gegen Schweden fiel er hauptsächlich durch ein Dutzend Schussversuche auf, um endlich einen WM-Treffer zu landen. Auch das misslang. Schon gegen Argentinien fielen viele Fehlpässe auf. Und am Dienstag während der Nationalhymne fiel ihm der Spielball aus Händen.

L’Equipe schrieb gestern schon: „Ballack war nicht auf der Höhe.“ Auch nicht kurz nach Beginn der Verlängerung, als er von Alberto Gilardino am eigenen Fünfmetereck so peinlich leicht umspielt wurde wie die sprichwörtliche Slalomstange. Der Innenpfosten rettete – noch. Kapitän Ballack stand in der 119. Minute, als Andrea Pirlo per kurzes Vertikalzuspiel Fabio Grosso mitten im deutschen Strafraum anspielte, in der Nähe. Statt sich mit aller Leibeskraft in den Schuss zu werfen, drehte sich Ballack, der Leitwolf des Projekts 2006, mit durchaus eleganter Bewegung selbst schützend zur Seite und machte exakt jenen Raum frei, den der geschlenzte Ball dann in Lehmanns Tor nahm. Eine instinktive Bewegung, nachvollziehbar. Aber in der vorletzten Minute eines WM-Halbfinales ein Versagen von herkulischen Ausmaßen.

Andrea Pirlo wurde, sehr zu Recht, zum Man of the Match gewählt. Auch weil er so meisterhaft die Zone beherrschte, in der Ballack hätte torgefährlich werden können. Er hatte 120 Minuten lang keine Aktion im italienischen Strafraum. Er knallte dreimal aus der Ferne aufs Tor, dreimal deutlich vorbei.

Ballack war auch Opfer eines taktischen Missgriffs. Italiens Coach Marcello Lippi wies sichtlich froh darauf hin, dass die deutschen Gegner „einen Mittelfeldspieler gegen Totti“, seinen hängenden zweiten Angreifer, aufgestellt hatten, nämlich Sebastian Kehl, der Torsten Frings stark vertrat: „Das war mit entscheidend. Dadurch waren wir im Mittelfeld immer ein Spieler mehr.“ Das hatte schwerwiegende spieltaktische Folgen: Mit Metzelder und Mertesacker standen zwei Abwehrspieler gegen einen Luca Toni. Deutschland spielte also, unfreiwillig, wieder mit einem freien Mann in der Abwehr und einem zu wenig in Ballacks Mittelfeld. Jürgen Klinsmann, auf Lippis Vorhaltung angesprochen, reagierte auffallend unwirsch: „Ich habe keine Lust, das Spiel hier zu analysieren.“ Ja, wozu sonst kommt er in eine Pressekonferenz? Nur für Regierungssprechersätze: „Wir haben der Welt gezeigt, welch tolles Land wir sind!“

Nach der Auszeit im Mittelkreis schritt Michael Ballack einmal rundherum. „You never walk alone“ hymnete durchs Stadion. Viele Spieler gingen Arm in Arm zu zweit. Ballack ging allein. Er hatte das zusammengeknüllte Trikot eines Italieners in der linken Hand und klopfte darauf den Takt, minutenlang wie in Trance, als hätte ein übermüdeter Vater sein Neugeborenes auf dem Arm. Aber Deutschland machte kein Bäuerchen mehr.