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Archiv-Artikel

Kunst der Verteidigung

Im Finale treffen zwei abwehrstarke Teams aufeinander – die französische Defensivarbeit kommt jedoch spielerischer daher als die italienische

AUS MÜNCHEN ANDREAS RÜTTENAUER

Langsam schritten die Spieler nach dem Abpfiff in die Kurve ihrer Fans. Sie umarmten sich, schauten sich ganz lange in die Augen. Sie schüttelten den Kopf und ballten ihre Fäuste. Gerade war Frankreich durch ein 1:0 gegen Portugal ins Finale der Fußballweltmeisterschaft eingezogen, doch der Jubel der Mannschaft fiel verhalten aus. Fast schien es, als dächten die Spieler sofort nach dem Schlusspfiff an das nächste Spiel, an das Finale gegen Italien.

Auch Trainer Raymond Domenech wollte sich nicht lange mit einer Spielanalyse aufhalten, verbat sich allzu große Hymnen auf das bislang Erreichte. „Man darf sich jetzt nicht zufrieden geben und sagen: Das war super, das war großartig. Das kann man am 9. Juli um 23.30 Uhr sagen.“

Es war ein schwer erkämpfter Erfolg der Franzosen in München. Je länger das Spiel dauerte, desto weiter ließen sie sich zurückfallen. Und dennoch entstand fast nie der Eindruck, die Defensive könnte den immer wieder bienenfleißig anrennenden Portugiesen irgendwann nicht mehr widerstehen. Statt sich in Laufduelle mit dem eifrigen Cristiano Ronaldo einzulassen, ließen sie ihn kommen. Kam er an den Außenverteidigern vorbei, scheiterte er spätestens an William Gallas oder Lilian Thuram. Vor allem Thuram zeigte, wie schön die hohe Kunst des Verteidigens sein kann. Er war immer da zu finden, wo er gebraucht wurde. Er war der Igel, der immer schon da war, wenn ein portugiesischer Hase angerannt kam. Es war der große Abend des Lilian Thuram.

Bislang konnte er sich bei diesem Turnier noch nicht so sehr in Szene setzen. Manchmal wurde er gar nicht gebraucht. Da hatten Patrick Vieira und Claude Makelele schon alles vor ihm abgeräumt, hatten Willy Sagnol und Eric Abidal auf den Flanken für Ordnung gesorgt. Diesmal also war die Innenverteidigung gefragt. Es ist eine der Stärken der Franzosen bei diesem Turnier, dass sie genug Fußballer in der Mannschaft haben, die ein Spiel dominieren können. Thuram lenkte es aus der Position des zentralen Verteidigers heraus. Dafür wird er in Frankreich gefeiert, beinahe ebenso wie vor acht Jahren, als er im Halbfinale gegen Kroatien zwei Treffer erzielt hatte. Doch es sind nicht die Tore, die derzeit in Frankreich bejubelt werden. Natürlich finden es die französischen Fans besonders schön, dass der von ihnen so geliebte Zinedine Zidane, das entscheidende Tor geschossen hat. Doch im Zentrum der Nachbetrachtungen steht sein Einsatz für die Defensive.

Auch Thierry Henry, dessen Angriffsbemühungen zwar etliche Male gut begannen, aber oft kläglich endeten, wurde von seinem Trainer nach dem Spiel gelobt: „Er war immer wach, wenn er in der Defensive stand.“ Das französische Verteidigungssystem funktioniert nur, wenn alle Spieler sich daran beteiligen. Auch Zinedine Zidane erfüllt dabei seine Pflicht. Er ist nicht der sakrosankte Säulenheilige des französischen Fußballs, der von seinen Mitspielern abgesichert durch das Turnier traben darf. Er ist Teil einer Mannschaft, deren Erfolge bei dieser WM auf der strategischen Arbeit in der Defensive beruhen.

„Wir haben genial verteidigt“, sagte Angreifer Henry nach der Partie und sprach von einem tollen Spiel, von einem verdienten Sieg der Mannschaft. Auch in Italien werden Spiele, die durch die Arbeit in der Verteidigung gewonnen werden, oft als große und schöne Spiele gefeiert. Der Defensivfußball wird nicht abschätzig beurteilt. Im Finale am Sonntag treffen jedoch zwei völlig unterschiedliche Verteidigungsphilosophien aufeinander: Während die Franzosen meist mit der gesamten Mannschaft hinter dem Ball operieren und nach der Balleroberung langsam unter Beteiligung möglichst vieler Spieler den Ball nach vorne tragen, leisten sich die Italiener reine Ausputzer wie Gennaro Gattuso, deren Mittel im Spiel nach vorne begrenzt sind. Vielleicht ist das der Grund, warum die französische Abwehrarbeit spielerischer daherkommt als die italienische. Es sind die besseren Fußballer, die für Frankreich verteidigen.

Die sind sich ihrer Stärke bewusst. Eine Stunde nach Abpfiff der Partie gingen die Franzosen durch die Mixed Zone. Einige haben gelächelt, die meisten wirkten verschlossen, unnahbar. Sie hatten jenen Tunnelblick aufgesetzt, den Fußballer oft zeigen, bevor sie auf den Platz laufen. Kurz nach dem Spiel gegen Portugal und lange vor dem Finale gegen Italien hat die Konzentrationsphase der Franzosen bereits begonnen.