: Eine politische Gespensterjagd
AUS LONDON RALF SOTSCHECK
London, Victoria Station: Vor dem Bahnhof stehen seit ein paar Wochen 15 schwarze Barrieren aus Stahl und Beton, jede von ihnen zwei Meter breit. Sie sollen verhindern, dass ein Selbstmordattentäter mit einer Autobombe in den Bahnhof rast. Es sei ein Experiment, sagte ein Polizeisprecher. Wenn es funktioniert, will man es auch an anderen Bahnhöfen anwenden. Und wenn es nicht funktioniert? Die Anschläge im Juli 2005 hätten die Poller nicht verhindert.
Heute vor einem Jahr sprengten vier junge, in Großbritannien geborene Muslime drei U-Bahnen und einen Bus in die Luft. 56 Menschen, darunter die Attentäter, kamen ums Leben. Heute wird in London ihrer gedacht: in zahlreichen Veranstaltungen, die um sechs Uhr morgens beginnen und Glockengeläut sowie Gebete in der Kathedrale St. Paul zu jeder vollen Stunde beinhalten. „London’s 9-11“ titelten die Zeitungen damals, und die Politiker sagten, dass das Leben in der britischen Hauptstadt nie mehr so sein werde wie früher. Für viele der über 700 Verletzten wird es das auch nicht.
Aber ein Jahr ist eine lange Zeit. Die Stadt ist längst zur Normalität zurückgekehrt. Die Hotels rund um den Tavistock Square, wo eine Bombe den Bus zerriss, sind ausgebucht, die Menschen drängeln sich in die U-Bahnen, an der kleinen Imbissbude am Bahnhof stehen sie Schlange. Euan Ferguson schrieb vorigen Sonntag im Observer: „Die Höflichkeit, die Hilfsbereitschaft, die überall in London am 7. Juli vorigen Jahres zu spüren war, ist verschwunden. Die Londoner gehen wieder angenehm rüde miteinander um. Sie fluchen, sie sind in Eile, sie kümmern sich nicht um andere. So soll es auch sein. Wir sind ja schließlich nicht in Amsterdam oder Toronto.“
Politikern und Polizei missfällt diese entspannte Einstellung. Man hat Anfang der Woche die zweithöchste Alarmstufe ausgerufen. Es gebe Hinweise, so erklärte der Geheimdienst MI5 den Abgeordneten vor acht Tagen, dass Terroristen den Jahrestag auf ihre Weise feiern wollen – möglicherweise mit einem Gasangriff auf Londons U-Bahn-Netz. Ein Abgeordneter sagte: „Die Terroristen in Tokio 1995 haben Fehler gemacht, denn sie haben nur sechs Menschen getötet. Wenn die Terroristen hier in Großbritannien herausfinden, wie man Zyangas richtig anwendet, könnten sie viel größeren Schaden anrichten.“
Neulich stand in einem neuen Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, dass al-Qaida nach wie vor eine erhebliche Gefahr für Großbritannien darstelle. Die Polizei erklärte, sie ermittle in 70 Verfahren wegen terroristischer Aktivitäten – so viele wie nie zuvor. Seit dem 7. Juli vorigen Jahres habe man mindestens drei oder vier weitere Anschläge verhindert. Es sei ein Jammer, dass die Öffentlichkeit davon nichts mitbekomme, sagte ein Polizeisprecher. Aber die meisten Ermittlungen seien nun mal geheim.
Man wird den Verdacht nicht los, dass die Regierung mit dem Terror-Schreckgespenst politische Zwecke verfolgt. Natürlich kann man neuerliche Anschläge nicht ausschließen, aber die ständige Beschwörung der Bedrohung soll die Bevölkerung offenbar mürbe machen für verschärfte Kontrollmaßnahmen, wie Blair sie sich wünscht: mehr Mittel für antiterroristische staatliche Institutionen, Personalausweise mit genetischem Fingerabdruck, Ausweisung von suspekten Ausländern, Internierung von Verdächtigen ohne Anklage. Die Regierung hat sich keineswegs damit abgefunden, dass ihr das Unterhaus einen Strich durch die Rechnung gemacht und lediglich zugestanden hat, dass Terrorverdächtige 28 Tage ohne Anklage festgehalten werden dürfen. Blair und Brown haben einen neuen Anlauf angekündigt, um die 90-Tage-Frist doch noch durchzuboxen. Es lägen neue Erkenntnisse vor, dass die Gefahr größer sei denn je, argumentieren sie. Schatzkanzler Gordon Brown hat darüber hinaus weitere 40 Millionen Pfund für die Geheimdienste lockergemacht. Ihr Budget beträgt jetzt 1,6 Milliarden Pfund. Die Anschläge wären zu verhindern gewesen, hätte der Geheimdienst MI5 schon damals mehr Mittel zur Verfügung gehabt. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls im Mai eine Untersuchung des Unterhaus-Ausschusses für Sicherheit.
In dem Bericht heißt es, dass der Anführer der Attentäter, Mohammed Siddique Khan, zwar unter Beobachtung stand, die MI5-Beamten jedoch wegen eines anderen Terroralarms abgezogen wurden. Das viele Geld soll in elektronische Überwachung, Gegenspionage und neues Personal investiert werden.
Der MI5 wird bis 2008 um 50 Prozent auf 3.500 Angestellte aufgestockt. Die Rekrutierung birgt aber auch Gefahren: Unter den 100.000 Bewerbern für die ersten 400 Jobs seien zahlreiche Al-Qaida-Sympathisanten gewesen, die man ausgesiebt habe, sagte ein Sprecher. Inayat Bunglawala vom eher regierungsfreundlichen Muslimischen Rat von Großbritannien sagte: „Viele von uns glauben, dass Großbritanniens Teilnahme an den Kriegen im Irak und in Afghanistan der wichtigste Grund für die Radikalisierung einiger junger Muslime ist.“ Das bestreitet die Regierung. Die Anschläge seien nicht durch den Irakkrieg motiviert gewesen, hieß es in dem Bericht vom Mai, obwohl ein Videoband existiert, auf dem der Anführer der Attentäter, Siddique Khan, genau das als Motiv benennt. 13 Prozent der muslimischen Bevölkerung Großbritanniens halten die Attentäter für Märtyrer. Blair beschwerte sich am Dienstag, dass es nicht ausreiche, wenn die Führer der britischen Muslime die Methoden der Terroristen kritisierten. Sie müssen darüber hinaus deren „falschen Groll gegen den Westen“ attackieren, forderte Blair. Die Regierung könne das alleine nicht schaffen, sagte er, zumal die muslimische Führung den Eindruck erwecke, als ob sie den Groll verstehen könne.
Warum dieser Groll seit den Anschlägen zugenommen hat, ist allerdings zu verstehen. Die Razzien, die Überwachungen und die Festnahmen richten sich vorwiegend gegen Muslime. Im vergangenen Monat wurde ein Haus im Ostlondoner Forest Gate von 200 Polizisten auseinander genommen. Die Polizei verhaftete zwei muslimische Brüder aus Bangladesch, einer wurde bei der Aktion durch einen Schuss verletzt. Von der Bombenwerkstatt, die der Geheimdienst ausgemacht haben wollte, fand sich keine Spur. Vielleicht kann Blair die beiden Brüder ja davon überzeugen, dass ihr Groll fehl am Platz sei.
(Quelle der beiden Zitate: www.timesonline.co.uk)