piwik no script img

Archiv-Artikel

Knäcke und Halbmond

Aus der komplexen Seelenwelt eines Fünfzehnjährigen, der als Sohn marokkanischer Eltern in Schweden geboren wurde: Jonas Hassen Khemiris Roman „Das Kamel ohne Höcker“

von KATHARINA GRANZIN

Jungsein ist auch nicht immer leicht. Zumal ausgerechnet im zarten Pubertandenalter die komplizierte Aufgabe der Identitätsfindung zu meistern ist, was denn auch viele Teenager als Zumutung empfinden. Stürmische innere Konflikte können die Folge sein, deren Verarbeitung sich der Umwelt noch im besten Fall im mürrischen Dauerschweigen mitteilt. Wenn zu der persönlichen auch noch eine kulturelle Grundverwirrtheit tritt, ist es kaum verwunderlich, wenn dieses Gefühlsgemisch ab und zu ein wenig explodiert.

Auf unprätentiöse Weise authentisch, sprachlich originell, einfühlsam und (selbst)ironisch führt der erste Roman des halbtunesischen Halbschweden Jonas Hassen Khemiri in die komplexe Seelenwelt eines zwischen allen Stühlen sitzenden Fünfzehnjährigen ein: Halim ist als Sohn marokkanischer Eltern in Schweden geboren. Ein Jahr zuvor ist seine Mutter gestorben und der Vater mit dem Sohn in ein anderes Viertel gezogen. Aus der Stockholmer Schlafstadt Skärholmen, wo Halim seine Kindheit im kulturellen Dunstkreis einer lebendigen Immigrantenszene verbracht hat, findet er sich ins innerstädtische Södermalm versetzt.

Doch er weiß den Milieuwechsel nicht angemessen zu schätzen. Auf der neuen Schule gibt es nur wenige Schüler ausländischer Herkunft, und Halim fühlt sich der schwedischen Mehrheitsgesellschaft hilflos ausgeliefert. Zuflucht sucht er bei der alten Araberin Dalanda, die, für den Jungen Mutter- und Großmutterersatz in einem, sich um seine weltanschauliche Schulung als Araber und Muslim kümmert. Ein Mann ohne Sprache sei wie ein Kamel ohne Höcker, schärft sie ihm ein, ermahnt ihn, Arabisch schreiben zu lernen, und schenkt ihm ein Buch mit vielen leeren Seiten. Halim nutzt sein neues Geschenk weidlich. Nur Arabisch schreiben lernt er nicht, denn für den muttersprachlichen Unterricht hat seine Schule kein Geld mehr. Halim rächt sich kurzerhand an der schwedischen Sprache. Sein Außenseitertum noch betonend, gewöhnt er sich an, Rinkeby-Schwedisch (wie die kanakische Variante des Schwedischen in Stockholm genannt wird) zu sprechen. In demselben Jargon führt er auch sein Tagebuch, zu dem Dalandas Geschenk ihm wird.

Der Roman als Tagebuch – ein erstaunlich altmodisches Stilmittel, das Khemiri hier ins Spiel bringt, doch auf vielschichtige Weise passend. Abgesehen davon, dass auch das Tagebuchschreiben, wie vieles andere in diesem Roman, schlicht autobiografisch begründet ist, kontrastiert diese Form der friedlichen schriftlichen Selbstvergewisserung auf Schärfste mit Halims nach außen getragener Aggressivität. Der Junge mag noch so sehr alle öffentlichen Toiletten zwischen Hornstull und Skärholmen mit Halbmond und Sternen beschmieren – wir wissen, dass er kein harter Kerl, sondern ein liebes Kerlchen ist, das unter dem Verlust der Mutter leidet, gern gut in der Schule wäre und es genießt, frisch gebadet am Schreibtisch zu sitzen.

Alles Dinge, die er wohl nicht so ohne weiteres mitgeteilt hätte, wäre Halim ein herkömmlicher Ich-Erzähler. Als solcher hätte er noch stärker eine Rolle spielen, uns konstant etwas vormachen müssen. Das kann er im Tagebuch zwar, doch das Medium erlaubt auch Momente der Wahrhaftigkeit, und genau hierin, in diesem Hinübergleiten der Realität in Fiktion, das während des Schreibens irgendwie zu passieren scheint, wird gleichzeitig ein möglicher Entstehungsprozess von Literatur selbst vorgeführt. Gerade bei der Schilderung von schwer zu ertragenden Dingen führt Halim-der-Autor neben der realen eine irreale Ebene ein, auf der er seine Wunschvorstellung, jemanden zusammenzuschlagen, von dem er in Wahrheit selbst bedroht wird, zumindest virtuell verwirklichen kann.

Dieses Spiel mit den Realitätsebenen treibt Khemiri noch weiter, indem er die „echte“ Realität auch noch mitspielen, d. h. wirklich existierende Personen auftreten lässt und sich sogar selbst einen Auftritt erlaubt. Doch bei aller Vielschichtigkeit: Dieses Buch liest sich leicht und locker. Was angenehm ist, aber nicht völlig richtig sein kann; in den Literaturforen stöhnen schwedische Leser, bei aller Sympathie für den Roman und seine innovative Sprache, dieses Rinkebyschwedisch sei so anstrengend zu lesen. Die deutsche Übersetzung deutet die kanakische Färbung dagegen nur so zart an, dass sie niemals nur in die Nähe der Gefahr käme, den Lektüregenuss durch ungewohnten Sprachgebrauch zu erschweren. Das ist kein Vorwurf, sondern ein echtes Problem; denn wer wäre schon in der Lage, Rinkebysvenska ins Deutsch-Kanakische zu übertragen? Dafür hätte man wohl Feridun Zaimoglu zum Sprachkurs nach Stockholm- Skärholmen schicken müssen.

Jonas Hassen Khemiri: „Das Kamel ohne Höcker“. Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. Piper Verlag, München 2006, 263 Seiten, 18,90 Euro