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Archiv-Artikel

Gott sei Dank, morgen Nacht ist die WM Aus! Aus! Aus!

Nach gefühlten 252 taz-Jubelseiten zur Fifa WM 2006 muss zum Ausgleich jetzt auch das, bitte schön, ausgehalten werden: das WM-Tagebuch eines notorischen und unverbesserlichen Fußballignoranten

von REINHARD KRAUSE

Dienstag, 6. Juni

Bah! Das fängt ja schon mies an. Der Achtuhrzug von Hamburg nach Berlin ist hoffnungslos überfüllt. Ich habe keine Platzreservierung und muss mit anderen Reisenden neben dem Klo auf der angeschmuddelten Auslegeware sitzen. Mahlzeit! Auf der Höhe von Ludwigslust dämmert mir, warum der Zug so voll ist: Es wimmelt vor Polizisten in fremd aussehenden Uniformen mit Beschriftungen wie „Polis“ oder „Police“. Gibt es in Berlin eine internationale Antiterrorkonferenz zur WM? Alle naslang muss einer der Herren aufs Klo, und weil es so heiß ist, haben sie alle die Uniformjacken abgelegt, nicht aber den Koppel mit der Dienstwaffe darin. Wahrscheinlich sollte ich mich besonders sicher fühlen – statt beunruhigt. Ein Vorgeschmack?

Mit Verspätung fährt der Zug in „Berlin Hauptbahnhof (tief)“ ein. Der Bahnhof ist erst seit ein paar Tagen in Betrieb, ein Monstergebäude, an dem seit zehn Jahren wie entfesselt gebaut wurde, auf dass es zum Start der WM fertig sei. Die Welt zu Gast bei Angebern. In der Zeitung stand, dass man im ganzen Bahnhof bewusst keine Schließfächer vorgesehen hat. Terrorgefahr! Seltsam nur: Warum hat man dann einen gigantischen Lichthof geschaffen, in den von oben eine fette Bombe zu schmeißen ein Kinderspiel wäre?

Ein ganz anderes Attentat wartet in der taz: Wegen der täglichen acht WM-Seiten möge die Magazinredaktion für drei Wochen vom vierten in den sechsten Stock umziehen. Auch das noch!

Mittwoch, 7. Juni

Nicht alles, was die WM mit sich bringt, ist gleich eine Katastrophe, freue ich mich am Morgen. Der extrabreite, nagelneue Fuß- und doppelte Radweg am südlichen Ende des Tiergartens ist inzwischen fertig gepflastert worden. Nur hat man davor die Absperrgitter stehen lassen. Warum wird der Weg nicht freigegeben? Warten auf das WM-Christkind?

Auch das Ausweichquartier im 6. Stock ist gar nicht so übel. Allerdings im Hochsommer ziemlich hitzegefährdet.

Am Abend ein böses Erwachen: Der Radweg im Tiergarten bleibt vergattert – bis Mitte Juli, also noch über das Ende der WM hinaus! Reicht es nicht, dass die Straße des 17. Juni von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor als „Fanmeile“ für den Verkehr gesperrt wird? Muss man auch das südöstliche Stück des Tiergartens komplett hinter Zäune packen? Wieso? Ich muss mit dem Rad auf die Straße ausweichen; die Autofahrer finden das auch nicht gut. Grrr! Ich beschließe, ein WM-Hass-Tagebuch zu schreiben.

Donnerstag, 8. Juni

Hilfe! Jetzt haben sie auch noch das riesige Stück Tiergarten von der CDU-Zentrale bis zum Potsdamer Platz eingezäunt, nach Norden reicht das Gatter bis zur Spree. Zum Glück gibt es noch ein paar Stellen, an denen man sich durch die Absperrung zwängen kann. Nur raus kommt man nicht mehr, denn das östliche Ende des Tiergartens ist schon voll verriegelt – und es gibt nur einen einzigen Ausgang, am Brandenburger Tor. Eine Radfahrerin, die vor mir aus dem Riesenkäfig raus will, wird von Berliner Wachleuten angepampt, wie sie überhaupt durch die Absperrung gekommen sei. „Das ist mein täglicher Weg zur Arbeit!“, zickt sie zurück. Die Laune ist im Keller.

Über Nacht scheinen kleine Fahnenmasten mit schwarzrotgoldener Flagge in den Handel gekommen zu sein, die man auf das Autofenster aufsetzen kann. Ein Verkaufsschlager. Viele Autos fahren sogar mit Fähnchen links und Fähnchen rechts durch die Gegend. Schön ist: Die Fahnen halten nur bei hochgekurbeltem Seitenfenster. Besonders patriotische Autohalter kommen an heißen Tagen in Atemnot und können beim Fahren auch nicht ohne weiteres aus ihrem Auto herausgrölen. Jedes Ding hat auch seine gute Seite!

Freitag, 9. Juni

Der Tag der Eröffnungsfeier, offenbar. Am späten Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein ein wenig im Park gesessen. Vom U-Bahnhof schallen höchst unschöne Geräusche herüber: Fußballfans auf der Fahrt zur nächsten Großleinwand. „Olé, olé-olé, olé!“ Ich will den Schlachtenbummlern (allein das Wort!) gar nicht unterstellen, dass sie schon vor Einbruch der Dunkelheit sternhagelblau sind. Aber müssen die sich immer artikulieren, als hätten sie statt einer Zunge eine riesige Blutwurst im Mund? Oje, oje-oje, oje! Das gehört beim Sport wohl zum „guten Ton“ und soll unberechenbar klingen. Niemand soll sicher sein, dass ihm nicht gleich vor die Füße gekotzt wird. Püschologische Kriegführung.

Die Mutterglucke aus dem Nachbarhaus kann natürlich nicht gesittet auf der Wohnzimmercouch das Eröffnungsspiel (Deutschland gegen wen doch gleich?) verfolgen, sondern schleppt ihren ganzen Hausstand nach draußen. Den Fernseher hat sie auf die Fensterbank gewuchtet. Zum Glück ist der Ton leise gestellt. Den Spielstand bekommt man allerdings trotzdem mit, auch bei geschlossenem Fenster. „Vier zu zwei!“, krähen die Küken der Glucke in den mitternachtsblauen Abendhimmel. Kurz darauf: „Fünf zu zwei!!“ und „Sechs zu zwei!!!“ Der Zeitung entnehme ich am nächsten Morgen, dass die Kinder offenbar eine blühende Fantasie haben – oder noch nicht vernünftig zählen können.

Samstag, 10. Juni

Heute habe ich einen schönen Termin in Otterndorf an der Elbmündung. Dort gibt es weit und breit keinen einzigen Hinweis auf die WM, traumhaft! Auf dem Hamburger Hauptbahnhof sieht das ganz anders aus: Auf jedem Bahnsteighäuschen stehen Pappkameraden in Kickerpose mit buntem Trikotoberteil, aber ohne Hose. Apropos: Was ist eigentlich aus dem Maskottchen Galeo geworden? Im Straßenbild ist er nirgends zu sehen, ein Glück. Mag sein, dass er im Fernsehen bei jeder Werbeunterbrechung Faxen macht, aber ich habe mich vorsorglich entschlossen, während dieser vier Wochen WM so wenig fernzusehen wie möglich. Auch keine „Tagesschau“. Meine persönliche Deeskalationsstrategie. Auch nicht U-Bahn fahren; schon gar nicht, wenn in Berlin gespielt wird.

Montag, 12. Juni

Die Zeitungen überschlagen sich mit WM-Sonderseiten. Bei den meisten Blättern sind sie fein säuberlich zu einem eigenen Buch zusammengefügt, so kann man sie en bloc wegschmeißen. Praktisch!

Neuerdings gibt es auch schwarzrotgoldene Fähnchen mit Bundesadler. Ist das jetzt besser oder schlimmer als nur die drei Farben? Ist das Verfassungspatriotismus, oder soll das nur aussehen wie „hoher Staatsbeamter in seiner Dienstlimousine“?

Trotz der Fahrverbotsschilder wird im Fankäfig geradelt, man muss nur durch eine Taschenkontrolle und einen Bodycheck. Die Kontrolleure sind unerwartet nett. Noch witzeln sie: „Haben Sie in dem Rucksack Waffen? Oder Bomben?“ Hinter dem Checkpoint kann man richtig aufatmen: Im Tiergarten ist sogar weniger los als sonst. Weit und breit keine Nordic-Walking-Omi. Vielleicht gelten die Stöcke als Waffe. Anders als bei der Außenrunde um den großen Fußballkäfig gibt es hier drinnen viel Schatten. Nur die Straße des 17. Juni sollte man meiden, da stehen die Bratwurstbuden und Großbildschirme. Morgens ist hier übrigens alles dicht, die Fanmeile öffnet erst um elf. „Aus Sicherheitsgründen.“ Sind die Kontrolleure vor elf noch nicht wach genug? Blöd rumstehen tun sie jedenfalls rund um die Uhr.

Dienstag, 13. Juni

Direkt gegenüber dem Reichstag hat Adidas ein ziemlich großes Miniolympiastadion aufgebaut. Dort drin kann man – live! – Fußball gucken, gegen Cash und natürlich nur auf der Leinwand. Von draußen sieht man zumindest so viel: Das ganze Terrain ist mit Werbung zugepflastert, auf jedem Plakat ein anderes Fußballergesicht. Erst hier fällt auf, wie wenig Promifußballer während dieser WM von Plakatwänden grinsen. Selbst der sonst allgegenwärtige Beckenbauer hängt nirgends.

Interessant: Die Fußballer, mit denen Adidas wirbt, soll man vermutlich kennen, man muss es aber nicht. Sonst müsste man ja nicht auch noch dick und fett ihre Namen dazuschreiben. So wie in den Sixties internationale Schauspielerinnen Werbung für Lux-Seife machten – und zur Sicherheit ihr Name noch eingeblendet wurde: „Julie Christie“ oder „Geraldine Chaplin“. Hier also die Liste der elf Fußballer, die Sie nicht erkennen müssen, sollten sie Ihnen nach dem tollkühn ungelenken Adidas-Motto „Impossible is nothing“ zufällig über den Weg laufen: Ballack, Beckham, Cissé, Defoe, Kaká, Lampard, Messi, Nakamura, Podolski, Robben, Zidane.

Mittwoch, 14. Juni

Ein Nachbarkind, schätzungsweise vier Jahre als, trällert schon frühmorgens im Hof vor sich hin: „Deutschland wird gewinnen, Deutschland wird gewinnen.“ Das erinnert mich an mein erstes Fußballspiel im Fernsehen, irgendwann in den Sechzigerjahren. Die ganze Familie saß vor der Fernsehtruhe und war in seltsamer Erregung. Ich ließ mich anstecken und starrte so gebannt wie alle anderen auf den Bildschirm. Nach einer Viertelstunde war ich es leid. Wann passiert denn da was? Die Frequenz verwertbarer Informationen, die mein Hirn erreichten, war kaum höher, als wenn das Gerät ausgeschaltet gewesen wäre. Fußballfans versuche ich es so zu erklären: Wenn ich auf diesen Shoppingkanal QVC gerate, geht es mir ganz genauso.

Die Taschenkontrolle am Tiergarten nehme ich inzwischen souverän. Ritsch, ratsch, ist der Rucksack auf und alles gezeigt. Meist verzichten die Ordner dann auch darauf, mich noch abzutasten. Heute, bei abendlich schwülen dreißig Grad, habe ich Pech. Von oben bis unten werde ich angetatscht – und überall kleben danach die Klamotten auf der Haut. Wet T-Shirt und Hose dito. Dem Asiaten vor mir wurden sogar die nackten Knie abgetastet! Ob der Ordner mit den Gedanken woanders war – oder gibt es womöglich Kniefetischismus?

Donnerstag, 15. Juni

Gestern hat Deutschland gegen Polen gespielt. Woher ich das weiß? Weil es im tazcafé an jedem Tag, an dem das deutsche Team spielt, Spezialitäten aus dem gegnerischen Land gibt. Das mag man ein bisschen albern finden, aber ich sag mal: Hauptsache, es schmeckt. Gestern gab es in jedem Gericht saure Gurken, und ich liebe Gurken.

Ich hatte schon frohlockt, dass bestimmt viele Polen über die nahe Grenze kommen, um sich auf der Fanmeile das Spiel gegen Deutschland anzusehen. Eine Lieblingsfantasie von mir ging so: Vielleicht können hinterher viele nicht mehr nach Hause fahren und übernachten auf der grünen Wiese vor der Fanmeile. Und wenn sie am Morgen noch ganz dun aufwachen, sind sie umzingelt von lauter nackten älteren Herren, die hier oft schon in der Früh alles herzeigen, was sie an anderen angucken möchten. Heute morgen Enttäuschung: Nur zwei Adams und nicht ein empörter Katholik aus der ehemaligen Volksrepublik. (Was die wohl von den jetzt überall hängenden Plakaten für die Serie „The L-Word“ halten? Mein erster Gedanke war: Ob US-Lesben wirklich so tussig aussehen?)

Ich alter Fußballmuffel muss mir eingestehen: Diese WM ist gar nicht mal so übel. Ob es am pünktlich zu ihrem Start ausgebrochenen Sommerwetter nach dem kalten Frühling liegt? Alles ist so … gesittet! Komisches Wort im Zusammenhang mit Fußball.

Freitag, 16. Juni

Bizarre Szenen. Vor dem Finanzministerium in der Wilhelmstraße doziert eine Fremdenführerin in breitestem Amerikanisch offenbar gerade über Nazi-Unmenschlichkeiten. Im Vorbeiradeln höre ich den Halbsatz „to beat them to death“. Der Haufen Fußballfans in bunt gewürfelten Trikots lauscht lethargisch. Es ist sehr heiß, aber die Gruseltour gehört zum Deutschland-komplett-Paket nun mal dazu. Deutschlandurlauber wollen das so.

Sonntag, 18. Juni

Auch das noch. Der Tagesspiegel titelt: „Wowereit: Jetzt wollen wir auch noch Olympia“. Nach CSD und Love Parade und den Fifa-Weltspielen nun also ein neuer Anlauf Berlins für eine Olympiabewerbung? Angeblich soll das frühestens im Jahr 2020 wieder möglich sein. Shit! Bitte frühestens 2028, dann wäre ich gerade 67 und frisch in Rente.

Der unvermeidliche Dieter Hundt muss auch seinen Senf absondern. „Besonders erfreulich sei“, wird er zitiert, „dass die deutsche Mannschaft einen mutigen, offensiven Fußball spiele und damit auch eine fast unglaubliche Welle der Euphorie im ganzen Land auslöse. ‚Diese positive Grundstimmung ist gut für unser Land. Ich wünsche mir, dass dieser Optimismus auch über die Weltmeisterschaft hinaus anhält.‘ “ Deutschland kommt ins Achtelfinale – und plötzlich ist alles in Butter? Für wie doof darf man als höchster Arbeitgebervertreter andere Menschen eigentlich halten?

Montag, 19. Juni

Sicher ein Dutzend Mal bin ich nun am Eingang der Fanmeile gefilzt worden und mein Rucksack auch. Heute fällt mir siedend heiß ein, dass ich vor Monaten mal ein Taschenmesser eingesteckt habe. Ob sich das noch in den Tiefen meines Rucksacks befindet? Oh ja! Und ist nie gefunden worden. Ein grandioser Witz: Am Eingang wird jede Tasche kontrolliert, sogar die Spinnenkappen von Rastafaris werden durchgeknetet (es könnte ja ein Zeitzünder drin sein!!!), aber entlang dem kilometerlangen Zaun gibt es tausend Möglichkeiten, einem Haufen Topterroristen von außen kiloweise Sprengsätze oder Hooligans Baseballschläger durch die Maschen zu reichen.

Dienstag, 20. Juni

Heute will ich’s wissen! Deutschland spielt, und ich traue mich auf die Straße des 17. Juni. Zehntausende (Hunderttausende?) stehen in der Hitze und gucken in die Ferne auf ziemlich kleine Leinwände. Deutschland führt 2:0, höre ich. So richtig wichtig scheint man das Spiel aber auch wieder nicht zu nehmen. Nur ein paar dem Gebaren nach Schwerbehinderte ziehen mit Polenflaggen herum und blöken nach Leibeskräften „Klose! Klose!“. Das weiß ja sogar ich, dass der nicht für Polen spielt. Am Rande sitzt eine junge Frau, die man schleunigst hier wegbringen sollte; bei jedem „Klose!“ schluchzt sie laut auf. Armes Ding!

Am Ende der Fanmeile steht ein riesiger rosa Plastikhase und macht Werbung für Duracell. Aber offenbar kann der Hase schier gar nichts. Damit sich wenigstens irgendetwas tut, dreht sich unentwegt die Riesenbatterie auf seiner Rückseite. Ein Fanal gegen Energieverschwendung, gegen ins Leere laufendes Tralala? Unwahrscheinlich.

Mittwoch, 21. Juni

Meine Fernsehdiät schlägt gut an, seit Beginn der WM habe ich schon drei Bücher gelesen. Überlege, den Fernseher ganz abzumelden. Danke, Fifa!

Freitag, 23. Juni

Daheim ist der ganze Hinterhof durchflutet von Fußballübertragungsgeräuschen aus dem Erdgeschoss; dort wohnt die senile, fast taube Frau M. Anfang Juni hat sie es noch fertig gebracht, ihren Ofen mit eklig stinkenden kunststoffbeschichteten Holzteilen zu befeuern. Jetzt liegt sie anscheinend den lieben langen Tag und die liebe lange Nacht vor der Glotze und verschläft Spiel um Spiel und Wiederholung um Wiederholung. Ihre Betreuerin hat ihr das Oberlicht sperrangelweit geöffnet, dann hat sie im ewigen Dämmer wenigstens frische Luft.

Dienstag, 27. Juni

Mal was Positives: Die britische Botschaft hinter dem Hotel Adlon hat den Polizeischutz (Wer bezahlt den eigentlich? Die oder wir?) zur WM eher ab- als aufgerüstet. Das ist doch schön. An die Fensterscheiben ihres futuristischen Hauses hat allerdings der Hausmeister oder ein eifriger Attaché scheußliche handgemalte Wandzeitungen mit den Spielergebnissen der englischen Mannschaft geklebt. Sieht aus wie Kindergarden. Ob die in der Botschaft keine ordentlichen Drucker haben für ihre Außendarstellung?

Donnerstag, 29. Juni

Treffe eine befreundete Kunsthändlerin, die schimpft, wie ich sie noch nie erlebt habe. Diese „ganze Eventscheiße“ ruiniere jeden Umsatz. Seit Beginn der WM kommt kein Kunde mehr. Die machen um die Fifa-Stadt Berlin einen Riesenbogen, da helfen auch keine verlängerten Öffnungszeiten und x-tra special shopping nights. Die WM als Umsatzmagnet? Unfromme Lügen.

Aber auch trendgerechte Waren enden als Ladenhüter. Bei der kleinen Tante-Emma-Drogerie um die Ecke gibt es noch Berge von Flip-Flops in Schwarzrotgold. Vielleicht kein Wunder, wenn der Hersteller nicht darauf verzichten mag, sein Logo auf die Latschen zu drucken, und ausgerechnet „Fashy“ heißt! Die ersten Deutschlandfahnen sind übrigens schon morsch und ausgefranst.

Freitag, 30. Juni

Heute, gegen Argentinien (es gab Ensalada con atun y huevos bio!), soll es für die Deutschen schon wieder um alles gehen. Heißt es. Man sollte übrigens nicht jede Meldung glauben, die die Medien verbreiten. Keineswegs etwa sind die Straßen wie leer gefegt, wenn das deutsche Team spielt. Da fahren noch genug Autos herum, auch viele mit Deutschlandfahnen!

Im Vorbeiradeln seltsame Bilder: Frisösen und Drogeriemarktverkäuferinnen haben offenbar nicht recht was zu tun und starren auf eigens mitgebrachte Minifernseher. Im Schaufenster eines Autohauses quetscht sich ein Verkäufer neben eine Topfpalme, weil dort ein TV-Gerät steht. Oder der junge Mann, der sich (große Mode jetzt!) seine Deutschlandfahne wie ein Dracula-Cape umgehängt hat und mit einer Pizzapackung über die Straße hastet. „Hunger besiegt Fußballfieber!“

Sonntag, 2. Juli

Der Frieden, den ich mit der Fifa WM 2006 geschlossen hatte, ist einseitig gebrochen worden: Wowereit verkündet, dass die Fanmeile für den Rest der WM ausgeweitet wird. Auch der Rest des Tiergartens wird jetzt vergattert. Noch mehr Umwege also! Ich fass es nicht.

Zäune haben im Tiergarten Tradition: Einst wurden hier Tiere zu Jagdzwecken ausgesetzt und durch Zäune am Ausbrechen gehindert. Erst Friedrich der Große pfiff auf blood sports und ließ die Gatter schleifen. Wowereit will die Geschichte jetzt zurückdrehen. „Mr. Burgermeister, tear down this wall!“

Montag, 3. Juli

Von England lernen heißt verlieren lernen. Am Botschaftskindergarten Ihrer Majestät hängt neben den Siegesmeldungen nun auch ein Zettel, der das Ausscheiden der englischen Mannschaft verkündet. Darüber: „Thank you, Germany. It was fab!“ Das ist Größe!

Mittwoch, 5. Juli

Es tut mir so leid, und ich will es auch nie wieder tun! Gestern, die DVD war gerade durchgelaufen, schaute ich doch noch ganz kurz rein beim Fußball, ich geb‘s ja zu. Vier, fünf Minuten der Verlängerung. Länger nicht, ich ahne mein schlechtes Karma. Und prompt ist Deutschland aus dem Turnier geflogen beziehungsweise darf nur noch um den dritten Platz spielen. Dabei hatte ich mir schon überlegt, wie ich Deutschland zum Sieg führen würde, nämlich genau so, wie ich es 1974 schon einmal getan habe, als die BRD auch Gastgeber war. Alle hatten beim Endspiel vor der Glotze geklebt, nur ich saß in der Sonne vor dem Haus und wartete auf den … Eiermann! Es war eine so friedliche Stimmung, als sei die Welt angehalten worden. Der Eiermann staunte: „Kuckst du nicht Fußball?“ – „Nee.“ Und dann hatten „wir“ gewonnen.

Aus der Traum von der Wiederholung. Aber seien wir mal realistisch: Gegen eine Mannschaft zu verlieren, der ein perverser Designer die Schwitzflecken schon ins Trikot designt hat, ist keine Schande! Und den Rest der WM schaffe ich jetzt auch noch. Olé, olé, olé!

REINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur