Gefühlte Zeichen der Nation

Von der Zivilisierung des Deutschlandtrikots: Schwarz-Rot-Gold sind auch nur drei Farben, und gelegentlich fühlte sich die Fußball-WM sogar wie eine ziemlich gelungene Fortführung der Love Parade an – Nachrichten aus dem geglückten Leben während der vergangenen vier Wochen

VON DETLEF KUHLBRODT

Die Fußballweltmeisterschaft war ganz anders, als man gedacht hatte. Weil man seit 1974 mal mehr, mal weniger manisch alle Fußballturniere guckt und auch selbst schon so lange Fußball spielt, hatte man gemeint, zu wissen, wie alles werden würde, und war eher besorgt gewesen. Man hatte gefürchtet, zu viel Testosteron käme nach Berlin, war besorgt, die Unsrigen würden sich blamieren; man dachte mit Schrecken an die besoffenen Rechten, die am Ende der Weltmeisterschaftsgewinnfeier 1990 am Ku’damm gewesen waren, erinnerte sich wehmütig an die letzte WM, als man zusammen mit einer argentinischen Freundin in London ein paar Spiele geguckt hatte.

Eigentlich war ich auch immer noch traurig und durcheinander, weil mein Vater im Frühjahr gestorben war und die Mutter seit kurz vor Beginn der WM in einer Nervenklinik war. Es ging um die Behandlung von Kriegstraumata. Manchmal telefonierten wir und sprachen über die Spiele, die sie nicht ganz sehen konnte, weil’s die Augen nicht mehr so tun, und sie sagte, dass mein Vater immer für die Anderen gewesen sei. Die Anderen waren die Außenseiter, also Mannschaften, denen niemand etwas zutraute. Ich hatte nicht gewusst, dass mein Vater in diesem Punkt ähnlich empfand wie ich. Nur war er beim Gucken immer eingeschlafen und hatte dann am nächsten Morgen erfahren, wie es ausgegangen war.

Zwar war ich immer, mal mehr, mal weniger – oft hatte das auch davon abgehangen, wie viel Schalker im Team waren –, für die Unsrigen gewesen, aber so deutsch hatte ich mich noch nie bei einer WM gefühlt. Wahrscheinlich spielen da doch Herkunft und Familie hinein, und das immer noch am Rande gern betriebene wohlfeile Deutschenbashing kommt mir ähnlich geschichtsvergessen vor wie rechter Deutschlandjubel.

Meine Stimmung war jedenfalls eher angespannt bis gedämpft am Anfang der WM. Die dunkel lackierten Autos mit westdeutschen Kennzeichen, die mit deutschen Fahnen triumphierend nach dem Sieg gegen Costa Rica durch die Gegend fuhren, hatten mich an Leichenwagen erinnert, und wenn exlinke Freunde, die sonst nur Champions oder Premier League guckten, von oben herab, wie mir schien, über das deutsche Team mäkelten, dass doch „Klassen“ schlechter wäre als England, Brasilien, Argentinien, Portugal – wer auch immer –, wurde man ausfällig und beschimpfte sie als Scheiß-68er; das sind halt auch diese Deutschen, die gerne automatisch von „Deutschen und Menschen“ sprechen, als wären Erstere nicht auch Letztere.

Die WM war aber hier und jetzt und super. In der Gruppenphase war die WM am schönsten, weil alle noch dabei waren. Die bunten Trikots der beteiligten Länder liefen durch die ansonsten eher graue oder sandfarbene Stadt. Nur kurz, in den 90ern, im Zuge von Techno und Love Parade, hatte es mal einen Orangeboom gegeben. Vieles in Berlin während der WM erinnerte an diese Zeit. Es war ein heißer Sommer, die Stadt war voller Menschen. Ständig war man draußen und traf neue Leute, die einem von neuen tollen Orten erzählten, in denen man ganz toll feiern konnte. Feiern war nun Fußballgucken, und viele Freunde, die ich im Technoumfeld kennen gelernt hatte, jubelten im „Fußballguckerklub“, einer kleineren Public Viewing Area in Berlin-Mitte, für Deutschland, wenn wir spielten.

In den Neunzigerjahren war in Deutschland die Kulturtechnik des Tanzens gelernt worden, während der WM lernte man das nichtnationalistische Jubeln. Natürlich waren die rechten Idioten auch da (aber nicht in unserem schönen Fußballguckerklub!), aber ihr Anteil ist viel kleiner geworden.

Farben. Anfangs dominierten die traditionsbewussten, sozusagen klassischen Deutschlandfans in den weißen Deutschlandtrikots. Später kam viel Rot dazu. Die roten, von Klinsmann angeblich aus farbpsychologischen Erwägungen (Aggressivität) eingeführten Deutschlandtrikots wirkten urbaner als die weißen.

Die meisten Kreuzberger mit migrantischem Hintergrund hatten sich für das rote Deutschlandtrikot entschieden. Vielleicht, weil die Türkei normalerweise ebenfalls in Rot spielt. So könnte das rote Deutschlandtrikot eine Art gewesen sein, zu sagen, wir spielen auch für euch, respektieren euch als Mitbürger, wir wollen auch euch repräsentieren. Diese Einladung wurde von vielen angenommen, indem sie die Trikots trugen, mit Schwarz-Rot-Gold als auch mit ihren Farben spielten, die Rolle von Gastgebern übernahmen. Manches war auch komisch, zum Beispiel das „Deutschland – Inshallah“, das an einer Kreuzberger Hauswand zu lesen war.

Das weiße Deutschlandtrikot von 1990 stand gefühlsmäßig für das vereinigte Deutschland minus der Linken und der hier lebenden Migranten; es war das Trikot dieses arbeitslosen Deutschen, der mit im Schritt nasser Hose am Rande der Angriffe auf das Asylbewerberheim in Rostock gestanden hatte; das rote Deutschlandtrikot (und die vielen anderen von H&M zum Beispiel) repräsentierte ein vielfältiges Deutschland. Das weiße Trikot stand für „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid“, die anderen standen für „Steht auf, wenn ihr für Deutschland seid“.

Die vielen unterschiedlichen Deutschlandtrikots zivilisierten das weiße Deutschlandtrikot, das auch weiterhin am häufigsten zu sehen war, aber eben nicht mehr so nationalistisch wirkte. Auf vielen dieser Trikots stand „Germany“, denn Germany liegt in Deutschland; auf manchen auch einfach nur „schland“.

Seid so nett, geht vor und schießt ein Tor. Immer noch war es unerträglich heiß. Später sollten wir spielen. Ich war furchtbar nervös. Das Spiel war mindestens so wichtig wie die Mondlandung. Ich wusste nicht, wo ich gucken sollte. Es gab so viele tolle Orte. Früher hatte ich Deutschlandspiele meist zu Hause angeguckt, um den rechten Fans aus dem Weg zu gehen. Nun saß ich in meinem Zimmer auf der Flucht vor der Entscheidung, wo ich mir die Repräsentanten meiner selbst, der Freunde, Verwandten und Nachbarn, die hier wohnten, angucken sollte. Wie jeder Fußballfreund war ich davon überzeugt, dass mein Verhalten einen gewissen Einfluss auf das Spiel haben würde.

Vor allem wusste ich auch nicht, was ich anziehen oder mitnehmen sollte. Irgendwie musste es doch etwas Besonderes sein. Das war ich auch meinen türkischen und arabischen Nachbarn schuldig. Es war ja kein Tag wie jeder andere. Gar kein Zeichen beim öffentlichen Fußballgucken mit sich rumzutragen kam mir plötzlich wie ein Zeichen anmaßender, arroganter Neutralität vor. Da fiel mir ein, dass ich im Besitz eines DDR-Fähnchens war. Meine Großkusine, die aus Halle stammt, hatte es mir vor 16 Jahren geschenkt. Seitdem schlummerte es in meiner Kommode ganz unten. Ich machte die Kommode auf und nahm dies Fähnchen raus.

Es fühlte sich aber wie Übertretung und Verrat an, diese Fahne anzufassen. Unpassend und sozusagen doppelt obszön. Ich tat die DDR-Fahne wieder zurück und verschenkte sie später. Als Teenager hatte ich mir mal einen Bundeswehrparka gekauft und zu Hause sofort die Deutschlandfahne herausgetrennt und durch einen Ché-Guevara-Aufnäher ersetzt. Denn die Fahne war immer die Bundeswehr, und ich war Pazifist.

Bei anderen war die Fahne okay; bei mir ging das nicht. Aber irgendetwas musste man doch machen.

So vergingen die Stunden, und plötzlich sah ich überall in meinem Zimmer Schwarz-Rot-Gold-Kombinationen. Schwarze Hosen. Gelbe Blumen. Rote Handtücher. Ich trug schwarze Sandalen und schrieb auf einer schwarzen Tastatur. Das Feuerzeug war rot. Der Tabak gelb. Das Frisbee gelb. Dass meine Tischtennisschlägertasche schwarzrotgolden war, war mir zuvor gar nicht aufgefallen, aber es stimmt: Die Rückseite war schwarz, die Vorderseite rot und der Schriftzug am Rand gelb. An der Wand hing das schwarzrotgelborange Poster einer Manga-Ausstellung.

Oder die Bücher. Die Foucault-Bände. Rote Schrift auf schwarzem Grund und daneben: Manfred Frank: „Analytische Theorien des Selbstbewusstseins“. Diese Schrift war gelb! „Untergrundkrieg“ von Haruki Murakami war richtig schwarz (der Autorenname), rot (der Titel) und gelb (der Einband).

Also machte ich Folgendes: Bevor ich ging, ersetzte ich meine blauen durch gelbe Vorhänge, legte ein rotes Handtuch auf die Fensterbank, unterließ es dann aber doch, neben das rote Handtuch noch ein schwarzes zu legen. Stattdessen packte ich meine älteste Single ein. Der Umschlag von „Hi Hi Hi“ von den Wings ist gelb. Die Schrift darauf Schwarz. Das Papier auf der Schallplatte in der Mitte, wo alles draufsteht, ist rot.

Draußen fuhren Kinderwagen in Deutschlandfarben. Es gab schwarze Hosen, rote Blusen, gelbe Handtaschen. Manchmal war auch nur der Schlüsselanhänger schwarz. Oder die Unterhose. Sehr elegant stand ein junger Mann im schwarzen D-Trikot mit schwarzem Schal in der sengenden Sonne. In unserem Parallelstadion hatte sich jemand, fast versteckt und dünn, ein schwarzrotgoldenes Herzchen auf den Arm gezeichnet. Es sah gut aus.