: Europas Zukunft in Afrika
EUROPA Ist der europäische Kontinent ein Zukunftsort? Darüber stritten sich Historiker, Künstler und Schriftsteller auf einer Tagung in Berlin
Europa ist besessen von seiner Vergangenheit. Krise hin oder her, eine Jubiläumsfeierlichkeit jagt die andere. So ist es nicht überraschend, dass die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften am Samstag in Berlin ihren jährlichen Salon „Europa – ein Zukunftsort“ mit einem Blick zurück eröffnete. Was aber war am Anfang? Die Entführung der Europa? Die EG? Oder doch der Krieg?
Viele Jahre war diese engstirnige Fortschrittstheorie, nach der der Krieg „Vater aller Dinge“ sei, eine Mode der Kulturtheorie. Auch der Historiker Herfried Münkler, Autor des Mammutwerks „Der Große Krieg“, beschreibt den Ersten Weltkrieg als „Schöpfer“ des modernen Europas. In Berlin diskutierte er darüber mit dem Akademiemitglied Etienne François. „Krieg heißt, dass für die Wissenschaft, die zum Sieg beiträgt, der Gürtel weit geschnallt wird“, sagt François. Aber nicht nur die Erfindung von Fernsehen oder Teflonpfanne stehen in Zusammenhang mit dem Krieg. Auch europäische Grundwerte wie die Bürgerrechte und die Wohlfahrt kommen daher. So ist die Mündigkeit des Bürgers ab 1789 originär mit der Militärpflicht verknüpft.
Mündigkeit durch Krieg
Dem Eigentum als Leitgedanken des Liberalismus entsprechend trat der Bürger von da an mit seinem Leben ein, laut Münkler „dem höchsten Eigentum, das er besaß“. Frauen waren davon indes ausgenommen. In Teilen Europas erhielten sie erst vor 45 Jahren volle Rechte. Mehr noch, nach 1918 vertiefte sich die Geschlechterdifferenz, Held und Gebärerin prägen unsere Rollenmodelle bis heute. Und obwohl es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg kaum kriegerische Konflikte gab, bedeutete die Durchsetzung des Nationalstaates im Südosten vor allem eines: ethnische Säuberungen.
Die Abwesenheit von kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa brachte aber keine friedliche Situation. Um die 17.000 Tote gab es schließlich an den hermetisch abgeriegelten Außengrenzen. „Heuchlerisch“ nennt François darum die Behauptung der EU, sie habe weder Feinde noch schütze es sich vor Bedrohungen. „Europa ist de facto eine Selbstverteidigungsgemeinschaft“, so der Historiker.
Quer durch die rund 30 Lesungen und Diskussionen zog sich daher das Thema „Grenze“. Dabei ging es um die Abschottung nach außen und innen. Unter dem Titel „Darf Europa scheitern?“ polemisierte der österreichische Autor Robert Menasse im Gespräch mit dem Rechtshistoriker Christoph Möllers gegen den Nationalstaat. Er erklärte den Widerspruch zwischen „nach-nationaler Entwicklung“ und „Re-Nationalisierung“ Europas zum Kern der Krise. Aber so treffend seine Polemik gegen die deutsche Nation („Alles zerfällt, nur Deutschland verdoppelt sich!“) ist, so gefährlich ist die Feier der lokalen Identität („Glauben Sie, dass die Basken Territorium ohne Basken besetzen wollen?“). Menasses Vision von Europa ist der freiwillige Zusammenschluss, den er von der Idee der Vereinigten Staaten Europas nach US-amerikanischem Vorbild abgrenzt: Europa sei ein Friedensprojekt. Darauf sagte Möllers: „Warum sollte ich weniger Angst vor Europa haben, das die Menschen in Lampedusa sortiert, wie kein Nationalstaat es könnte.“ Leider wurde die Debatte unter dem lauten Murren der rund 300 Zuhörer abgebrochen.
Bei so viel Selbstbespiegelung war der Blick von außen umso wichtiger, denn Europa ist unmöglich aus Europa heraus zu verstehen. „Und wenn Europas Zukunft in Afrika läge?“, fragte der senegalesische Historiker Ibrahima Thioub. Zwischen Gibraltar und Marokko liegen schließlich nur 14 Kilometer. Und auch sonst sind die Kontinente seit dem 15. Jahrhundert eng verflochten. Geprägt ist die Geschichte aber vor allem durch Asymmetrie: Sklaverei, Kolonialisierung und wirtschaftliche Ausbeutung – ein Bündnis jenseits des Warenaustauschs, auf Augenhöhe gar, gibt es aber bis heute nicht. „Wir befinden uns im postkolonialen Zeitalter“, sagt Thioub. „Aber das ist eine Illusion. Die Länder Afrikas sind entkolonialisiert, aber nicht die ehemaligen Kolonialmächte.“ Die von Ausbeutung geprägte Innenperspektive unterscheidet sich stark von der Außenwahrnehmung, einem immer noch kolonialen Blick, demzufolge Afrika sich nur durch Europa entwickeln könne. Die zukünftigen Herausforderungen sieht der Historiker darum vor allem für Europa, in einem Wandel der Wahrnehmung. Dann könnten die afrikanischen Partner Europa auch wieder aus der Krise helfen. „Diese neuen Wege sind – um mit Ihrer Kanzlerin zu sprechen – ohne Alternative“, konstatiert Thioub. SONJA VOGEL