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Archiv-Artikel

Verdrängungsweltmeister

Helden in Berlin, bald arbeitslos daheim? Der Siegestaumel wegen des WM-Titels lässt Italien für einige Stunden den Fußball-Skandal um Spielmanipulationen und dessen Folgen vergessen

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Als Grosso den letzten Ball im französischen Tor versenkte, da verwandelte sich Rom zu einem riesigen Stadion. Noch war kein Mensch auf den völlig verwaisten Straßen – doch ein Aufschrei drang aus allen Fenstern. Dann folgten Kracher, die Nationalhymne, abgespielt aus auf den Balkon gestellten Mega-Boxen und doch mühelos vom Gesang der völlig aus dem Häuschen geratenen Fans übertönt.

„Das ganze Land im Delirium“, titelte gestern der Corriere dello Sport und traf damit präzise die Stimmung. Mailand, Rom, Palermo – keine italienische Stadt, die nicht zum grün-weiß-roten Fahnenmeer geworden wäre. In Rom hatte der Präfekt vorsichtshalber schon im Vorfeld die Sperrung der gesamten Innenstadt für den Pkw-Verkehr verkündet; dafür stauten sich die Autos dann auf den Straßen am Tiberufer, während in der Innenstadt die Party zu Fuß oder per Moped abging. Die Siegesfeiern gingen meist friedlich über die Bühne, mit den üblichen Auto-Konvois, Hupkonzerten, Feuerwerken und Bädern in Brunnen.

Doch mit der durchfeierten Nacht war die Party natürlich lange noch nicht zu Ende; gestern stand schließlich die Rückkehr der glorreichen Nationalmannschaft aus Germania an – und die Stadt Rom hatte gleich den Circus Maximus für den zweiten Akt der Siegesfeier reserviert. Wenig Zeit hatten da die Fans, aber auch die Zeitungen, sich mit – aus Sicht des Resultats – unerheblichen Details aufzuhalten. Balkenüberschriften in zehn Zentimeter Höhe, mal einfach ITALIA!, mal CAMPIONI, dann stolze 20 Seiten Berichterstattung boten auch die seriösen Blätter wie Republica oder Corriere della Sera. Keiner aber stellte auch nur am Rande die Frage: Was eigentlich hat nun Materazzi Zidane zugeflüstert, ehe der zu seinem Kopfstoß ansetzte? Die italienischen Leser erfuhren bloß, dass Zidane sich einen „unwürdigen“, einen „vulgären“ Abgang verschafft habe – das war’s. Auch die Frage, wie das nun mit der Roten Karte war, wurde bloß am Rand gestreift. War es der Linienrichter, der den Schiedsrichter in Bild gesetzt hatte, war es der vierte Mann, hatte der das Geschehen mit bloßem Auge oder per Video gesehen? In Italien galt gestern: nichts Genaues weiß man nicht.

Genaues wissen Fans wie Sportreporter dagegen seit nunmehr knapp zwei Monaten über den Manipulationsskandal, der zu Hause die Erste Liga erschüttert. Ausgerechnet am Finalwochenende hatten sich schließlich die Sportrichter zur Urteilsfindung über Juventus Turin, AC Mailand, Florenz und Lazio Rom zurückgezogen. Ihr Spruch wird direkt die sportliche Zukunft von immerhin 13 der 23 Spieler des italienischen Aufgebots betreffen. Die Sportrichter hatten im Vorfeld erklärt, sie würden natürlich ihre Beratungen am Sonntagabend unterbrechen, um sich in Ruhe das Finale anzusehen. Unterbrochen haben dann auch gestern Zeitungen und Fernsehen ihre Skandalberichterstattung.

Bloß der Corriere della Sera brachte die Höhen des WM-Titel mit den Niederungen der zu Hause jahrelang verschobenen Meisterschaften zusammen, unter dem emphatischen Titel „Der Tag der Reinen“. Einen Monat lang seien die italienischen Nationalspieler in Deutschland zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt, zu den Zeiten, als sie noch junge unbekannte Vorstadtkicker gewesen seien: „Die Passion siegt über den Betrug, die Reinen im Herzen sind effizienter als die Schlauen“, heißt es da hymnisch, so als habe Juve mit seiner Betrugsmasche nicht manchen schönen Meistertitel nach Hause gebracht und so als sei zum Beispiel der Nationalkeeper Buffon bloß ein Namensvetter des bei Juve ebenso erfolgreich spielenden Torwarts. Gestern aber wollte Italien mit diesen hässlichen Geschichten nicht behelligt werden. Sie werden das Land schließlich früh genug einholen: mit dem bis Mittwochabend erwarteten Spruch des Sportgerichts.