Kunst im Punkrock-Modus

In den 90ern gründete sich in Mexiko-Stadt die Künstlerinitiative „La Panaderia“, die ihre Vorbilder im Ausland und außerhalb des Kunstkontextes suchte. Ein Buch bündelt ihr zehnjähriges Schaffen

Thematisch drehten sich die „La Panaderia“-Ausstellungen um Kritik am Künstlersubjekt, Migration oder (neue) Medien

von KRYSTIAN WOZNICKI

Mexiko in den Neunzigerjahren, Nafta und EZLN. Finden sich im Zeichen dieser Kürzel des politisch-ökonomischen Wandels auch neue Räume für die Kunst? Wie kaum eine andere Initiative des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat es die mexikanische Künstlerinitiative „La Panaderia“ verstanden, zwischen Freihandelsabkommen und dem Aufstand der Unterprivilegierten nach solchen Räumen Ausschau zu halten. Im Jahr 1994 wurde eine ehemalige Bäckerei in der Landeshauptstadt als Galerie, Werkstatt, Klub und Hotel genutzt.

Gegründet von Yoshua Okon und anderen gleichgesinnten KünstlerInnen fand „La Panaderia“ in der internationalen Kunstwelt mit so genannten artist run museums und artist run galeries kongeniale MitstreiterInnen. Gleichzeitig nahmen hier die Karrieren von Künstlern und Künstlerinnen wie etwa Teresa Margolles, die mit spektakulären Bildern aus abgesaugtem menschlichen Fett auch in Deutschland bekannt wurde, ihren Ausgangspunkt. Nun liegt mit einer großformatigen Publikation ein historischer Abriss vor: „La Panaderia. 1994 – 2002“ ist eine mehrere hundert Seiten schwere Todesanzeige und zugleich ein panoramatischer Rückblick auf nahezu zehn Jahre alternative Kunstproduktion in Mexiko-Stadt. Prozess, Experiment, Kritik: Wie lassen sich die in „La Panaderia“ zum Ideal künstlerischer Produktion erhobenen Prinzipien in ein Buch übersetzen? Diesen Widerspruch umschifft „La Panaderia. 1994–2002“ überraschend souverän. Der Ausbruch aus dem engen Bezugssystem des Kunstbetriebs ist längst Geschichte – und damit eine Geschichte, die erzählt werden will: Es gibt einleitende Beiträge von den InitiatorInnen sowie von BeobachterInnen aus dem In- und Ausland. Dann folgt die chronologische Präsentation der Ausstellungen, mit kurzen einleitenden Informationen; dokumentiert werden Flyer/ Einladungskarten sowie Ausstellungsansichten, dazu Fotos, die bei Vernissagen und Happenings in „La Panaderia“ entstanden sind.

Alles ist zweisprachig in Englisch und Spanisch gehalten. Überhaupt ist dem Buch eine gewisse Monumentalität nicht abzusprechen. Zugleich erscheint der schiere Umfang mit Blick auf den Laborcharakter innerhalb der mexikanischen Subkultur durchaus konsequent: „La Panaderia“ wollte rahmensprengend sein.

Da war zunächst der Rahmen des Nationalstaats. Mexiko in den Neunzigerjahren, das ist ein Land in einer Schieflage. Die Zirkulation von Informationen ist geregelt durch Staat und Konzerne. Klischees beschränken den Horizont. Nach außen: Tacos und Tequila. Nach innen: CNN und MTV. Nafta und EZLN polarisieren diese Landschaft. Und so führt die Suche nach neuen Räumen der Kunst zunächst weit über die Grenzen von Mexiko hinaus. Es gilt möglichst viel aus dem Ausland zu importieren, um das „vorherrschende Gefühl der Isolation“ (Okon) zu überwinden. Die heimische Kulturszene wird mit künstlerischen Ansätzen aus Europa und den USA vertraut gemacht. Man sucht den Austausch: San Francisco und Wien werden von den „La Panaderia“-Initiatoren kurzerhand zu Partnerstädten von Mexiko-Stadt erklärt. Gleichzeitig werden regionale Schwerpunkte gesetzt, die Gruppenschau „Sauvage“ beispielsweise versammelt KünstlerInnen, die in Guadalajara arbeiten. Wichtig sind auch Rückblicke auf selten gelesene Kapitel der mexikanischen Kunstgeschichte, wie eine Ausstellung mit KünstlerInnen, deren Arbeiten in den Siebzigerjahren entstanden.

Thematisch drehen sich die Ausstellungen wiederholt um Kritik am Künstlersubjekt, Migration oder (neue) Medien. Insbesondere das Thema Unterhaltung wird immer wieder ins Spiel gebracht, als Rahmenbedingung für Kunstproduktion und -rezeption. Aber auch als Spielfeld für kreative Eruptionen, die die Frage danach stellen, was Kunst ist und was nicht. Das Spektrum reicht hier von mexikanischen Rockbands, die handgemalte Posterfantasien ihrer Fans ausstellen, bis hin zu DIY-Videoinstallationen von Musikperformances.

Mit dem Ende des Projekts vor vier Jahren ging eine Konsolidierung einher. Yoshua Okon ist mittlerweile ein gefragter Galeriekünstler, der von Tel Aviv bis Los Angeles an Museumsausstellungen beteiligt ist. Auch die ästhetischen Impulse der von „La Panaderia“ kultivierten Kunst im Punkrock-Modus sind im Mainstream angekommen, allem voran das mexikanische Kino mit Protagonisten wie Alejandro González Iñárritu, dessen Erfolg 2001 mit „Amores Perros“ begann. Insofern könnte „La Panaderia“ auch in Buchform weiterhin als Role Model dienen. In Zeiten enger werdender Räume für die Kunst stiftet es zur Nachahmung an und illustriert auf eindrückliche Weise, dass jüngere Trends wie etwa das neue mexikanische Kino oder auch die bis ins New Yorker PS 1 Museum hinein erfolgreiche Kunstszene Mexikos nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern ihre Ursprünge und Inspirationsquellen in der Subkultur vor Ort hatten – und noch immer haben.

„La Panaderia. 1994–2002“, herausgegeben von Alex Dorfsman & Yoshua Okon. Mit Texten von Itala Schmelz, Guillermo Fadanelli, Eduardo Abaroa und anderen, Editorial Turner de México, S.A. de C.V., 2005. 320 Seiten, 30 € (ISBN 84-7506-649-6)