: Das Geschäft mit den Todkranken
PHARMAINDUSTRIE Zwar steckt in fast jedem Medikament öffentliche Forschung, doch die Patente hält die Industrie. Das bedroht Menschenleben, wie das Beispiel Aids zeigt. Als erstes Uniklinikum in Deutschland will die Berliner Charité das nicht mehr hinnehmen
JULIA RAPPENECKER, CHARITÉ BERLIN
VON INGO ARZT UND KATJA SCHMIDT
Julia Rappenecker war baff, wie einfach alles war. Fünf Minuten hielt sie einen Vortrag vor dem Fakultätsrat der Berliner Charité, dann gab es Applaus und Zustimmung. Die 24-jährige Medizinstudentin hat im Februar dieses Jahres das größte Uniklinikum Europas überzeugt, an der Lösung eines globalen Problems mitzuwirken: Wie können alle Menschen, egal ob arm oder reich, vom medizinischen Fortschritt profitieren? Das klingt nach Utopie. Doch Rappenecker sagt: „Wir wollen nicht die Welt auf den Kopf stellen, wir haben ein realistisches Anliegen.“
Das besteht darin, die Forschungsergebnisse an staatlichen Einrichtungen wie der Charité der Industrie künftig nicht mehr bedingungslos zu überlassen. Diese müsse sich vielmehr verpflichten, auch armen Menschen Zugang zu den daraus entwickelten Medikamenten zu gewähren – etwa durch billige Lizenzen für Produktionen in Entwicklungsländern. Die Charité wäre in Deutschland die erste Einrichtung, die einer solchen Klausel zustimmt. Die Senatsverwaltung für Bildung muss das noch genehmigen – aus der Charité hört man aber, das sei so gut wie sicher.
Zehn Nobelpreisträger
Hinter Rappenecker steht der deutsche Ableger der Universities Allied for Essential Medicines (UAEM), den sie vor eineinhalb Jahren mit gegründet hat. UAEM ist eine studentische Gruppe aus den USA, die dort von zehn Nobelpreisträgern unterstützt wird. Bereits 25 Universitäten haben ihre Forderungen angenommen. Rappenecker hofft, dass die Charité in Deutschland zum Vorbild wird.
Es sind kleine Schritte: Bis sich die Grundlagenforschung in neuen Medikamenten wiederfindet, vergehen mindestens zehn Jahre. Heute sterben jedes Jahr Millionen Menschen, weil ihnen einfachste Medikamente fehlen, schreibt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein Grund: Sie sind zu teuer. Das Global Forum for Health Research hat errechnet, dass 41 Prozent der weltweiten Ausgaben für Medizinforschung von der öffentlichen Hand kommen.
Steuergelder für Forschung
In fast jedem Medikament stecken Steuergelder. Die Patente aber hält und kauft die Pharmaindustrie, die mit staatlichen Forschungseinrichtungen wie der Charité entweder zusammen Impfstoffe oder Medikamente entwickelt oder Patente aus der Grundlagenforschung aufkauft – die ihr dann für zwanzig Jahre exklusiv zur Verfügung stehen. Damit bestimmt die Firma auch die Preise. Es gibt kaum eine Handhabe, wenn Pharmaunternehmen überhöhte Preise verlangen und dadurch Menschenleben gefährden. „Hier geht es nicht um Autos. Wenn man Medikamente herstellt, hat man soziale und ethische Verantwortung“, sagt Rappenecker.
Wie Patente lebenswichtige Gesundheitsversorgung gefährden, zeigt das Beispiel Aids. Auch bei der Welt-Aids-Konferenz in Wien geht es darum. Aktuell steigt die Zahl der HIV-Infektionen zwar weiter an, aber nach Angaben des UN-Programms Unaids forderte die Krankheit zuletzt weniger Todesopfer pro Jahr. Doch noch immer gibt es keine Arznei, die eine HIV-Infektion heilen würde, mit Kombinationen antiviraler Medikamente kann das Virus jedoch lange in Schach gehalten werden. Auch in armen Ländern konnte der Zugang zu solchen Medikamenten verbessert werden. Allerdings steht der Erfolg auf der Kippe.
Ein Problem ist, dass Patienten nach einiger Zeit Resistenzen gegen die Therapie entwickeln. Nur wenn neue Substanzen zur Verfügung stehen, lässt sich das Virus weiter eindämmen. In Entwicklungsländern aber ist der Wechsel zu neuen Wirkstoffen häufig nicht möglich. Der Großteil der Patienten wird dort mit HIV-Medikamenten der ersten Generation versorgt, berichtet Andreas Wulf von medico international. Diese Arzneien werden nach Originalmedikamenten von indischen Pharmafirmen preiswert als Generika hergestellt und nach Afrika, Asien und Lateinamerika geliefert. Indien gilt als „Apotheke der Armen“. Eine HIV-Kombinationstherapie kostet heute pro Jahr und Patient in Entwicklungsländern weniger als 80 US-Dollar, im Jahr 2000 waren es noch rund 2.700.
Doch die neueren Medikamenten können die indischen Hersteller nicht genauso nachahmen. Die Produktion der älteren HIV-Generika begann, als sich das Land noch nicht den strengen Patentregeln der Welthandelorganisation WTO angeschlossen hatte. Indien konnte Pharmafirmen zwingen, Lizenzen für dringende Medikamente so günstig zu erteilen, dass sich Entwicklungsländer diese leisten konnten. Inzwischen aber pochen die Firmen auf die Durchsetzung des Patentschutzes im „Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (Trips). Damit sind die Nachfolgetherapien gefährdet. Die von HIV betroffenen Länder des Südens können sich Medikamente mit weniger Nebenwirkungen oder besserer Handhabung nicht leisten, wenn diese durch Patentschutz zu teuer bleiben.
Vergangenen Dezember forderte deshalb ein Bündnis gegen Aids mehrere Hersteller auf, ihre Patentanträge in Indien zurückzuziehen, einer ist die Firma Abbott, die ein Patent für ihre Tablette Kaletra beantragt hat. In Pillenform ist das Präparat hitzebeständiger, deshalb sollte es für Länder des Südens erschwinglich sein, sagen Aktivisten.
Abbotts Patentantrag
De facto sei das längst der Fall, sagte Abbott-Pressesprecherin Franziska Theobald am Freitag. Schon jetzt werde die Tablette von einem indischen Hersteller generisch produziert. Sie berichtet aber auch, dass der Abbott-Patentantrag noch läuft. Werde man gegen den indischen Produzenten vorgehen, wenn dem Antrag stattgegeben werden sollte? Darüber werde man nachdenken, wenn das Patentamt entschieden hat, sagt Theobald.
Die EU fährt noch größere Geschütze auf. Der Zoll in EU-Ländern hält immer wieder Lieferungen von in Entwicklungsländern benötigten Generika auf, die sich im Transit befinden. Die Begründung: Verstoß gegen Trips-Bestimmungen, Verletzung geistigen Eigentums. Zudem verhandelt die EU mit Indien über ein neues Handelsabkommen, das die „Apotheke der Armen“ zerstören könnte. Patente sollen dann 25 Jahre laufen und europäische Patente auch in Indien voll gelten.
Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Uwe Kekeritz, Vorsitzender des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat mit anderen Abgeordneten EU-Kommissionspräsident Barroso und Angela Merkel aufgefordert, diese Regelung zu stoppen. „Was ich entsetzlich finde, ist, dass sich die EU vor den Karren der Pharmaindustrie spannen lässt. Werden Generika teurer, ist das ein Todesurteil für Hunderttausende von Menschen“, sagt er der taz.
Offiziell setzt sich die EU mit ihren Zollkontrollen gegen gefälschte Medikamente und gegen Gesundheitsgefahren in Europa ein. Andreas Wulf von medico beschreibt das Vorgehen aber als wirtschaftlichen Abwehrkampf, genauso wie auch die Patentstreite. „Es ist notwendig, Trips als das zu sehen, was es ist – als Verteidigung eines ökonomischen Vorsprungs der Industrieländer“, betont er.
Die Pharmaindustrie verteidigt die Patentpolitik mit dem Argument, man müsse die milliardenschweren Investitionen wieder erwirtschaften, ohne die es die meisten Medikamente gar nicht gäbe. „Es gibt außerdem genug günstige Generika“, sagt etwa Annette Wiedenbach, Pressesprecherin bei Bayer-Schering. „Das größte Problem ist die Infrastruktur in armen Ländern. Ein Arzt muss erst mal zu den Menschen kommen, um sie behandeln zu können.“
Es gibt auch Unternehmen, die unverblümt von großen Profitchancen beim Kampf gegen Aids sprechen. Global Data, eine Firma, die an Unternehmen Marktstudien verkauft, hat kürzlich errechnet, der „HIV/Aids-Markt“ sei 2009 rund 12 Milliarden Dollar wert gewesen – Tendenz steigend. Zum Kauf der Studie wirbt die Firma mit dem Versprechen: „Was ist das nächste große Ding in der globalen HIV/Aids-Marktlandschaft? Identifizieren, verstehen und Kapital daraus machen.“ Entwicklungsländer habe man dabei weniger im Blick, sagt ein Mitarbeiter.
Die Kranken sind zu arm
„Es klingt makaber, aber wäre HIV auf Entwicklungsländer beschränkt, würde es kaum Forschung dazu geben“, sagt Oliver Moldenhauer, Koordinator der Medikamentenkampagne bei Ärzte ohne Grenzen. Er setzt sich dafür ein, dass Medikamente für „vernachlässigte Krankheiten“ entwickelt werden, deren Opfer zu arm sind, um einen lukrativen Markt zu bieten. Die WHO zählt davon 14 auf, etwa die Schlafkrankheit, Tuberkulose, Malaria oder Würmer.
„Das Kernproblem ist der Versuch, Forschungsausgaben durch hohe Produktpreise finanzieren zu wollen. Dies führt zu überhöhten Preisen, die Millionen den Zugang verwehren“, sagt Moldenhauer. Viele Aktivisten werben mittlerweile dafür, öffentliche Forschungsförderung an den Zugang armer Länder zu Produkten zu koppeln. Bei HIV fordert das etwa die Organisation Unit Aid in Genf, die sich für einen Pool einsetzt, in dem alle Forschungseinrichtungen und die Industrie ihre Patente einbringen. Jeder dürfte diese dann gegen Zahlung einer Gebühr nutzen. Julia Rappenecker fasst ihre Vision noch allgemeiner: „Wir wollen, dass Entscheidungen in der Wissenschaft nicht aufgrund des Profits getroffen werden, sondern aufgrund der Bedürfnisse der Bevölkerung.“