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Archiv-Artikel

Schwimmen im Strom der Geschichte

ERZÄHLEN Mal Sagenerzählerin, mal Literaturwissenschaftlerin, mal Homer selbst: Kristin Wardetzky leitet sicher durch die Odyssee

„Das Schicksal der Menschen bestimmen sie selbst“, sagt Kristin Wardetzky. So steht es in der Odyssee von Homer ganz am Anfang, wenn Athene und Zeus miteinander verhandeln, ob der Junge jetzt nicht langsam mal nach Hause kommen sollte. Sieben Jahre hängt er schon bei Kalypso rum. Das Tagesgeschäft antiker griechischer Helden scheint darin zu bestehen, ihrem Schicksal in die Arme zu laufen, entweder dadurch, dass sie vor ihm fliehen, oder dadurch, dass sie es ignorieren.

Am Wochenende hatte die Professorin für Theaterpädagogik in der Tanztangente in Steglitz einen ihrer seltenen Auftritte. Die Weissagungen im Mythos seien nichts anderes als Teaser, um den Zuhörer bei der Stange zu halten, erzählte sie einem faszinierten Publikum. Wardetzky begeisterte sich nicht nur die große Abenteuer- und Liebesgeschichte der Odyssee, sondern auch für deren Struktur und die Kunstfertigkeit des Homer.

Die große schlanke Frau mit den weißen Haaren flüstert und ruft, wirft die Hände, wippt auf den Zehenspitzen. Man könnte jedes Mal eine Stecknadel fallen hören, wenn sie schweigt. Von 1993 bis 2003 hat die Märchenforscherin und Literaturwissenschaftlerin an der Universität der Künste in Berlin Künstlerisches Erzählen gelehrt. Wer sie am Sonntag sah, erkannte eine Meisterin bei der Arbeit.

Wardetzky hatte eine deutsche Ausgabe des antiken Epos dabei, die ist so dick wie ein Telefonbuch, in dunkelblaues Leinen gebunden. Die Odyssee besteht aus 24 Abschnitten, Bücher genannt. In Wardetzkys Ausgabe sind bunte Zettel zwischen die Seiten geklemmt. „Die berühmten Abenteuer des Odysseus“, sagt Wardetzky und hält das schwere Buch hoch, „sind nur vier Bücher. Vier von 24. Und Odysseus selber taucht erst im fünften Buch auf. Vorher wird nur über ihn geredet. Das muss man sich mal vorstellen!“

Vorstellen müssen die Zuschauer sich viel bei ihr – aber das fällt überhaupt nicht schwer. Homers Werk ist streng symmetrisch gebaut, erklärt Wardetzky. „Genau in der Mitte der Abenteuer steigt er in den Hades hinab, ins Reich der Toten. Um diesen Angelpunkt herum ordnen sich symmetrisch Geschichten über Vergessen, physische Überwältigung und Tabubruch.“ Sie hat bunte Tafeln zur Veranschaulichung mitgebracht, die sie unter den Zuschauern verteilt, um die „Organisation des Materials“ zu veranschaulichen. „Kirke“, steht auf einer Tafel. Eine der vielen Frauen, mit denen Odysseus was hatte. Genauso wie „Kalypso“.

Kristin Wardetzky zeigt, dass Literaturanalyse nicht abturnend sein muss. Dass das Wissen um Inhalt und Form der Poesie nicht den Zauber stiehlt, sondern im Gegenteil noch eine Schippe drauftut.

Wardetzkys Vortrag ist wie Schwimmen im Strom der Erzählung. Sie taucht hinein in die Geschichte, lässt sich ein Stück forttragen, taucht wieder auf, klettert ans Ufer, besieht sich die Landschaft, prüft die Wasserqualität. Sie selbst wechselt beim Erzählen ständig die Rollen, ist mal Sagenerzählerin, mal Literaturwissenschaftlerin, mal Odysseus und mal Homer. Sie nimmt ihre Zuhörer mit auf eine kleine Schwimmstunde durch eine der größten Erzählungen des Abendlands, auf dass sie Freischwimmer werden. LEA STREISAND