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Archiv-Artikel

Lob der Sensibilität

DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN

Es sind nicht die Fahnen, die Skeptiker am Patriotismus so stören. Sondern diese „Endlich“-RhetorikWenn es etwas zu bewahren gilt, dann ist es die Vorsichtvor übertriebenem Nationalstolz

Jetzt heißt es also abwarten, wie lange die letzten Fahnen noch an den Autos flattern bleiben. Dass sie in den letzten Tagen massenweise hoch gehalten wurden, ist schon vielfach bemerkt worden, und fast jeder Zeitung war es einen Artikel wert, dass auch die „Ausländer“ deutsche Flagge zeigten – was vermutlich daran liegt, dass sich die „Ausländer“ viel mehr als „Inländer“ fühlen, als uns die inländischen Zeitungen in den Wochen zuvor glauben machen wollten.

So wie jeder Depp noch am selben Abend um die Fehleinschätzung der Bild-Zeitung wusste, die vor der Niederlage der deutschen Elf ihr unverschämtes „Arrivederci Italia“ getitelt hatte: Womit die Bild nicht nur die italienischen Fußballer falsch einschätzte, sondern auch die nicht Fußball spielenden Italiener, die nämlich nicht im Traum daran denken, Deutschland Arrivederci zu sagen. Sie leben nämlich hier. Der Sommer ist jung, wir brauchen das Eis, die Frisuren, die Druckereierzeugnisse und was Leute mit italienischem Namen sonst noch so alles in Deutschland herstellen.

Wenn man so darüber nachdenkt, waren auch die übrigen Bild-Schlagzeilen der Fußball-Wochen politisch nicht gerade feinfühlig. Vielleicht ist es an der Zeit, über eine Neuauflage der „Enteignet Springer“-Kampagne nachzudenken?

Doch Achtung, nicht vom Thema abschweifen. Eigentlich soll es heute nämlich um gewisse Pappnasen mit schwarzrotgoldenen Streifen auf den Wangen gehen, die, kaum haben sie die ersten Pubertätswirren überstanden und in der Schule ein, zwei Mal die Zeit des Nationalsozialismus durchgenommen, zur WM-Zeit in die Kamera krähten: „Endlich kann sich Deutschland wieder zu sich selbst bekennen“, „Endlich ist Patriotismus nichts Schlechtes mehr“ und „Endlich darf man wieder stolz sein auf dieses Land“. Als ob euch Nike-tragenden und iPod-besitzenden, verwöhnten kleinen Konsumkröten irgendwer mal irgend was Relevantes verboten hätte! Aber man will ja nicht ausfallend werden. Das Wort „endlich“ allerdings gehört meiner Meinung nach tatsächlich für geraume Zeit verboten.

Nun könnte man einwenden, dass keiner genau weiß, wie viele junge Menschen überhaupt einen solchen „Endlich“-Satz geäußert haben. Es ist gut möglich, dass nur jeder Zehnte einen sagte, dass die Fernsehmacher davon aber so entzückt waren, dass sie es gleich hundertmal gesendet haben – gut, den Einwand will ich gelten lassen. Dann also gegen die Kollegen vom TV: Es sind nicht die Fahnen, die uns Patriotismusskeptiker an dem neuen Patriotismus stören. Nicht die Allgegenwart der Farben Schwarz-Rot-Gold (obwohl ich empfehlen würde, über eine Umbenennung von „Gold“ in „Gelb“ nachzudenken, nur so’n Vorschlag). Sondern was uns stört, ist die Tatsache, dass diese neuen Patrioten nicht mal einem Halbfinale beiwohnen können, ohne das gleich wieder als Tabubruch und Befreiungsschlag zu inszenieren. Dahinter steht diese altbekannte, selbstmitleidige Rückschau in die deutsche Nachkriegsgeschichte: wie die armen Deutschen sich all die Jahre haben schämen müssen. Und alles nur, weil sie damals diesen blöden kleinen Fehler mit den Juden begangen haben. Okay, das war vielleicht nicht so doll, sagen sie dann, aber kann nicht jeder mal einen Fehler machen? Und darf man bitte auch mal zurück fragen: Was war mit Dresden?

Das ist die Rhetorik des Revisionismus, der Bombenkriegs- und der Vertriebenendebatte. Es ist das Gejammer von einem, der wissentlich und willentlich seinem Klassenkameraden mit dem Hockeyschläger eins über die Nase gezogen hat und dann prophylaktisch heult, um seiner Lehrerin zu signalisieren, eine Strafpredigt könne seine verletzliche Kinderseele irreversibel schädigen. Verdammt, und was ist mit Nase und Seele des Klassenkameraden?

Wie eine Presseschau der Zeit zeigte, haben auch die großen Zeitungen Frankreichs und Englands, Österreichs, der USA und der Schweiz in denselben Jubel eingestimmt: wie unverkrampft die Deutschen „endlich“ mit ihrem Nationalstolz umgehen, wie fröhlich deutsche Fahnen im WM-Wind wehen. Nun hört man immer gern die Meinung von außen, gerade als Korrektiv in nationalen Fragen; doch in diesem Fall muss man sagen: Jetzt mal halblang, liebe Engländer, Franzosen etc., davon versteht ihr nicht genug, und bitte haltet euch da raus. Lasst uns das Beispiel Englands herausgreifen, einfach deswegen, weil ich absolut in England (nicht: in Beckham) vernarrt und daher jeder allzu strengen Betrachtung dieses Landes unverdächtig bin.

Trotzdem irritiert mich bei jedem Besuch auf der Insel die Unbekümmertheit, mit der man dort vergangene militärische Siege preist und die Zeit Queen Victorias, in der doch ein Gutteil der Welt unterm Joch der Krone stand. In Deutschland denkt jeder Ausstellungsmacher, der sich der Räume eines deutschen Kaisers bedient, die von diesem Kaiser geführten Kriege mit. In England dagegen himmelt man seine Herrenhäuser an, ohne sich auch nur einmal kurz zu fragen, ob man in damaligen Zeiten zu denjenigen gehört hätte, die dieses Herrenhaus höchstens per Dienstboteneingang betreten hätten. Man hat in England irgendwie kein Gefühl dafür, dass das, was damals Größe war, für andere Not bedeutete. Und die heute dort Lebenden verspüren nicht den Nachhall einer Schuld an etwas, das früher geschah.

Erst der Oxforder Philosoph Bernard Williams musste den Engländern beibringen, dass berechtigte Scham- und Schuldgefühle nicht unbedingt mit etwas einhergehen müssen, für das man selber haftbar zu machen ist. Und jetzt möchte ich mal stolz die deutsche Flagge hervorkramen: In Deutschland weiß so etwas jeder abiturlose Rowdy. Jeder weiß, dass mit diesem Land etwas im Argen liegt, dass jeder Lebende auf dem Grab Ermordeter wandelt. Wir wissen es, wenn von gynäkologischen Versuchen der NS-Ärzte die Rede ist. Und wir wissen es, wenn wir von den Beschichtungen auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals hören: Egal, woher diese Chemikalie letztlich stammt, es gibt nun mal kein sauberes Geld in diesem (und möglicherweise keinem Nachbar-)Land.

Ja, seitdem Deutschland ein Höchstmaß an Perfidie gegenüber einigen aus seiner Mitte an den Tag legte und erst von außen daran gehindert wurde, bis in alle Ewigkeit damit weiterzumachen, haben wir eine größere Sensibilität auch für andere, subtilere, normaler wirkende, weiter verbreitete Perfidien bekommen (von denen wir einige mit anderen Ländern teilen). So hat die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung eine tief sitzende Abscheu gegen jede militärische „Lösung“ entwickelt, was kriegslüsterne Leitartikler gern als billigen Pazifismus verspotten – umsonst. Der Verkauf deutscher Panzer wird von den meisten „Tagesschau“-Sehern jedenfalls nicht mit „mehr Geld“ assoziiert, sondern mit „mehr Tod“.

Wenn es etwas gibt, das sich die Nachkommen der Verbrecher von einst bewahren sollten, dann ist es diese Sensibilität, ihr Gewissen. Wir sollten gar nicht erst hoffen, dieses Gewissen abschütteln und unsere Nationalhymne feucht-fröhlich drauflos singen zu können, „endlich wieder“. Wir sollten vielmehr froh sein, dass wir dabei immer auch ihre negativen Untertöne heraushören, immer noch.